Untitled - Der Film ohne Namen (2017)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Eine Reise ohne Kompass

„Nicht warten, sondern weiter fahren“, formulierte Michael Glawogger 2013 seinen Impetus für ein neues, gänzlich anderes Dokumentarfilmprojekt von ihm. „Denn nur in der größtmöglichen Bewegung kommen die Geschichten auf einen zu.“

Ohne einen dramaturgisch roten Faden im Hinterkopf oder eine spezielle thematische Klammer vor Augen startete der Grazer Ausnahmefilmemacher (Megacities, Workingman’s Death, Whore’s Glory) zusammen mit einem kleinen Team ausgehend von der Alpenrepublik eine Weltreise. Nein, viel mehr eine dokumentarische Expedition zu jenen weißen Flecken auf der imaginären Weltkarte, also zu Orten, Menschen und Landschaften, die in der öffentlichen Wahrnehmung scheinbar überhaupt nicht existieren: Seltsam aus der Zeit gefallene Ruinenlandschaften auf dem Balkan sind dabei oder gespenstische Erdbebengebiete in Italien, daneben auch verborgene Teile Marokkos und Mauretaniens – und immer wieder abgelegene Gebiete im Senegal oder Sierre Leone, wo regelmäßig der Strom ausfällt.

Zusammen mit seinem Kameramann Attila Boa, dem wohl besten Auge der österreichischen Filmindustrie (Das Venedig Prinzip, More than Honey, Das große Museum), wollte er quasi Orte des Verschwindens suchen: Sei es auf Güterzügen in der staubigen Trockenheit irgendeiner Wüste oder bei einbeinigen Fußballern am Strand, deren Ballspiel einer regelrecht impulsiven Choreographie gleicht. Sei es bei einer Lammgeburt mitten in einer Mülldeponie, bei Diamantenwäschern oder im unübersichtlichen Gewusel eines gigantischen afrikanischen Fischmarkts. Hier sind sie wieder: Diese unnachahmlichen Glawogger-Einstellungen, die ethnografisch eigentlich nichts wollen und trotzdem sehr viel über den Zustand unserer globalisierten Weltkugel aufzeigen. Die immer verbunden sind mit dieser faszinierenden Mixtur des Sich-Treiben-Lassen, aber ebenso der glänzenden Gabe, im eigentlichen Nichts doch stets etwas Außergewöhnliches, visuell Prägnantes aufzuspüren.

Glawoggers Reisetempo war zur damaligen Drehzeit ebenfalls sehr hoch – und dann kam durch den unerwarteten Tod des Regisseurs, eine besonders schwere Malaria-Art hatte ihn am 24. April 2014 in Liberia innerhalb weniger Tage dahingerafft, plötzlich alles zum Erliegen. Sozusagen bei der Arbeit, tags zuvor waren noch Blogeinträge für süddeutsche.de und im österreichischen Standard von ihm erschienen. Immens war der Schock innerhalb der internationalen Dokumentarfilm-Szene.

Dass aus diesem losen Material am Ende kein filmisches Trauerdenkmal, sondern ein durch und durch faszinierendes Film-Essay wurde, ist Glawoggers langjähriger Cutterin Monika Willi zu verdanken, die seit Jahren auch besonders eng mit Michael Haneke und Barbara Albert zusammenarbeitet. Untitled heißt nun der fertige, aus gut 70 Stunden Drehmaterial montierte Film am Ende dieser besonders schmerzhaften Reise für alle Beteiligten, was auch bei der Berlinale-Premiere im Kino International unausgesprochen, aber von Beginn an deutlich sichtbar in den Augen des Filmstabs zu sehen war. Ohne Talking Heads oder lange O-Ton-Passagen, angenehm roh und frei in der formalen Gestaltung, mit dem durchgängigen Verzicht auf Inserts, aber mit herrlich freigeistig-poetischen – vielleicht nicht immer durchgehend notwendigen Zeilen – aus dem Off nimmt Monika Willi ihre Zuschauer rasch mit auf eine never ending story zu den Rändern dieser Welt. Herausgekommen ist dabei kein Film im Ist-Modus, sondern ein extrem guter im permanenten Während-Status, der obendrein absolut wettbewerbstauglich und preiswürdig gewesen wäre.

Attila Boas gewohnt bewegte Kamera, die außerdem in kürzeren Ruhemomenten gleich mehrfach erstklassige Supertotalen (wie bei der Diamantenwäsche oder auf dem Fischmarkt) einfängt, kontrastiert ebenso faszinierend wie verstörend immer wieder Monika Willis hartem Schnittrhythmus. Dazu erklingt von Zeit zu Zeit ein weiterer, vielfach poetischer Eintrag aus Glawoggers ungewöhnlichem Reise-Blog in der dritten Person, der analog zu Boas Einstellungen wunderbar assoziativ zwischen den realen Drehorten und dem eigentlich niemals imaginierten Ziel jenes dokumentarischen Unterfangens hin- und herspringt. Prononciert, aber nie affektiert werden diese Zeilen („Sprecht mit mir, so lange, bis ich eure Sprache spreche“) von der irischen Theaterikone Fiona Shaw vorgetragen, die auf diese Weise Untitled mehrfach ins Transzendente transformiert, ohne je in esoterisches Quacksalber-Sprech abzudriften.

Vielmehr gelingt es Monika Willis und ihren Mitstreitern – allen voran auch ihrem Experimentalmusiker Wolfgang Mitterer – diesen geplanten Nicht-Film eben doch zuletzt in eine sehr ansprechende Form zu gießen, die von mächtigen poetischen Chiffren durchzogen ist und – sehr positiv – offen an die Macht der Bilder glaubt, ihnen ein großes Eigenleben zugesteht. Jeder Betrachter kann beispielswiese die wilden Ring-Kämpfe afrikanischer Athleten genau so deuten wie er es selbst möchte, genauso die Leidensschreie am Boden festgebundener Esel im Marokko oder die kleinen solidarischen Gesten von Männern wie Kindern im Unort einer Abfallwüste. Untitled ist im Kern eine filmisch hochartifizielle Auseinandersetzung mit der Macht des Schicksals, dem niemals enden wollenden Lebensfluss der Welt, auch wenn sie manchen noch so trostlos erscheinen mag. Diese Umarmung des Zufalls nach dem serendipity-Prinzip, dieses meisterlich montierte Filmkunststück über das Suchen und Nicht-Finden („Der schönste Film ist einer, der nie zur Ruhe kommt.“ Michael Glawogger) gleicht von der ersten Einstellung an einer Reise ohne Kompass. Diese Trips waren seit jeher die schönsten: Immer mitten hinein in das Weltgeschehen.
 

Untitled - Der Film ohne Namen (2017)

„Nicht warten, sondern weiter fahren“, formulierte Michael Glawogger 2013 seinen Impetus für ein neues, gänzlich anderes Dokumentarfilmprojekt von ihm. „Denn nur in der größtmöglichen Bewegung kommen die Geschichten auf einen zu.“

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