The Other Europeans in: Der zerbrochene Klang

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Über viele Jahrhunderte lag Bessarabien, eine uralte europäische Kulturlandschaft, die heute überwiegend auf dem Gebiet Moldawiens liegt, im Spannungsfeld zwischen (Süd)Ost- und Mitteleuropa. Als Pufferzone zwischen verschiedenen europäischen Großmächten kamen hier Einflüsse zusammen und formten sich wie in einem Versuchslabor zu gänzlich neuen und aufregenden Mischungen, wie man sie nirgendwo sonst vorfinden konnte. Gemeinsam spielten Bands jüdischer Herkunft und Roma-Musiker zum Tanze auf, musizierten auf Hochzeiten und Begräbnissen und gossen damit in eine musikalische Form, was man heute wohl als Multikulti bezeichnen würde – die selbstverständliche Durchmischung und Ergänzung von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die Nachbarn sind und Freunde.
Mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion, der Vernichtung der dort ansässigen Juden sowie Sinti und Roma und der später folgenden Neuordnung Osteuropas ging ein reiches Erbe verloren, das heute größtenteils als unrettbar verloren gilt. Besonders gilt dies für die musikalischen Traditionen, die in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts in Bessarabien erstaunliche Früchte trugen. Denn hier spielten Roma-Musiker und jüdische Kapellen über jegliche gesellschaftliche Grenzen hinweg zusammen und integrierten selbstverständlich Elemente der jeweils anderen (Musik)Kultur. Klezmer-Klänge mischten sich mit den Melodien der Lautari (gemeint sind hier die Roma)-Musiker. Doch Aufzeichnungen, wie das damals geklungen haben mag, gibt es heute seitens der Roma-Virtuosen keine mehr. Yvonne und Wolfgang Andräs Dokumentarfilm Der zerbrochene Klang schildert den Versuch, den verloren gegangenen Sound der damaligen Zeit mühevoll zu rekonstruieren und begleitet Musiker verschiedener Herkunft bei ihrem Unternehmen, den untergegangenen Rhythmen vergangener Tage nachzuspüren.

Initiator und Motor des Projekts mit dem Namen The Other Europeans ist Alan Bern, ein Amerikaner jüdischer Abstammung, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt und der als einer der wichtigsten Wegbereiter des jüdischen Klezmerrevivals gilt. Insgesamt sind es 14 Musiker aus Europa und den USA, die zusammen aufbrechen, um – zunächst getrennt in eine jüdische Sektion und eine Band mit Roma-Musikern – zu proben, zu diskutieren, zu versuchen, sich musikalisch einander anzunähern und schließlich die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit immer wieder dem Publikum zu Gehör zu bringen.

Doch was zuerst einleuchtend klang, erweist sich im Lauf der Expedition als schwieriges, eigentlich nicht zu bewältigendes Unternehmen. Denn während die jüdischen Musiker auf Tonmaterial aus der Vergangenheit zurückgreifen können, gibt es von den Lautari-Musikern der 1920er-Jahre allenfalls mündliche Überlieferungen.

Wie aber spielt man etwas, das seit 70 Jahren nicht mehr praktiziert wird? Wie findet man überhaupt zueinander, wenn die Sprachen, die man spricht – nicht nur die musikalischen -, sich ebenso voneinander unterscheiden wie die Motivationen und ganz konkreten Lebensumstände? Was ist überhaupt das Geheimnis des respektvollen und anerkennenden Umgangs miteinander? Dies alles sind Fragen, die der Film quasi als Subtext neben der eigentlichen musikalischen Recherche behandelt. Und diese Fragen machen den Unterschied aus – weil wir uns als Zuschauer und vor allem als staunende Zuhörer ihnen nicht entziehen können, gerät die Recherche um eine verloren gegangene Musikkultur gleichsam zu einer Parabel auf das, was Menschen miteinander verbindet und was sie voneinander trennt.

So scheitert zwar am Ende das Vorhaben der Rekonstruktion (und war es nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil es an Verifizierungsmöglichkeiten für die Richtigkeit der Ergebnisse mangelt?). Stattdessen bestätigt sich eine Erkenntnis, die zwar keineswegs neu, dafür aber von zeitloser Gültigkeit ist: Musik verbindet – über alle Grenzen und Barrieren hinweg. Vor allem aber macht sie unglaublich viel Spaß, wenn sie mit so viel Herzblut und Können vorgetragen wird wie von Alan Bern und seinen Mitstreitern.

The Other Europeans in: Der zerbrochene Klang

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts lebten jüdische und Roma-Musikerfamilien in Bessarabien zusammen, heirateten untereinander und musizierten gemeinsam. Diese jüdischen Klezmer- und Roma-Lautarmusiker formten eine einzigartige Musikkultur, die durch den Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. 70 Jahre später begeben sich 14 international bekannte Musiker aus aller Welt auf eine Reise in diese Vergangenheit. Doch was zunächst als musikalische Suche nach dem zerbrochenen Klang beginnt, führt völlig unerwartet zu einer auch sehr schmerzlichen Erforschung der eigenen Identität und ihrer Stellung als Juden und Roma in und außerhalb Europas.
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