Szenario

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Protokoll einer Affäre

Es könnte alles Fake sein. Schließlich ist auch Bram Stokers „Dracula“-Roman zusammengesetzt aus Briefen, Tagebucheinträgen und Mitschriften von – ganz modern – Wachsplatten-Phonographaufnahmen. Ist er deshalb weniger fiktiv? Und wenn nun in dem essayistischen Film Szenario genau das Szenario, wie es im Drehbuch steht, zunächst einmal verlesen wird, bevor wir es sehen: Ein Tisch, ein Kassettenrecorder, ein Aktenkoffer, eine Frau mit weißen Handschuhen, die den Koffer öffnet und ihm Papiere, Fotos, Dokumente entnimmt; und wenn dann genau dies geschieht: Dann wird das Gezeigte so sehr gebrochen, dass man verfangen ist im Unklaren über Wahrheit und Dichtung, über Dokumentarischem und Fiktion.
Zumal das, was der Koffer enthält, gänzlich unwahrscheinlich scheint: die protokollarisch genauen Hinterlassenschaften einer außerehelichen Affäre im Jahr 1970, mit tagebuchartigen Einträgen über die Geschlechtsakte, mit Hotelrechnungen und Souvenirs von Sonntagsausflügen, mit intimen Fotos aus Hotelzimmern und mit einer leeren Pillenschachtel. Und mit einer unglaublichen Geisteshaltung, mit der Hans, der verheiratete Chef, sein Verhältnis zu Monika, seiner ebenfalls verheirateten Sekretärin, pedantisch aufgezeichnet hat, in einer Sprache, die Beamtendeutsch mit Gossenslang mischt. Kann es so etwas tatsächlich gegeben haben?

Ja. Hat es. Tatsächlich ist dieser Aktenkoffer bei einer Haushaltsauflösung aufgetaucht, und ein Hamburger Galerist hat ihn im Rahmen eines Kunstwerkes verwendet. Im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien – ausgerechnet am Valentinstag 2014 – ein Artikel über diese Reminiszenzen dieses Seitensprungs; die Karriere des Koffers findet nun ihren Höhepunkt in dieser filmischen Bearbeitung von Philip Widmann und Karsten Krause. Die nämlich nicht nur präsentieren, was dieser Hans über seine Monika schreibt; sondern die auch ausgehend von soziologisch-statistischen Befunden der Jahre 1969/1970 zusammen mit Artikeln aus Jasmin – Die Zeitschrift für das Leben zu zweit aus Monika eine statistische Größe machen, eine von soundsovielen Frauen in Köln, von soundsovielen weiblichen Angestellten in Deutschland, eine, die zu soundsoviel Prozent mit ihrer Gesundheit zufrieden ist und der zu soundsoviel Prozent der Ausblick aus ihrem Wohnzimmerfenster gefällt.

Während also Hans ganz individuell jedes Detail seiner Beziehung festhält – zu welchem Datum er ab wieviel Uhr wie lange mit Monika „hochgegangen“ ist und sie „gesteckt“ hat, ob er an ihrer „Funz“ gespielt hat und in welcher Stellung sie miteinander verkehrt haben („Seiten- und Speziallage“) –, kommen die Filmemacher von der anderen Seite, von der der Umfragen und der Datenanalyse, sie sehen Monika als Summe von empirischer Realität und Statistik, machen aus diesen Szenen einer Affäre eine Größe der Wahrscheinlichkeit, einen Teil der Gaußschen Normalverteilung, ein Zusammenfließen von allgemeingültigen Methoden der Empirik.

Das ist ein Kontrast, der seine volle Wirkung entfaltet – und durchaus auch auf Witz pointiert ist: „Um 14.15 Uhr sagte ich: Sollen wir jetzt? Alsdann wurde gefickt“, notiert Hans; oder auch: „Sie fickte selber tüchtig mit“, und in schönem Passiv: „Es wurde noch eine Zigarette geraucht.“ Und aus seinen Protokollen, aus seinen Souvenirs ergibt sich langsam eine Geschichte, die durchaus dramatisch ist, durchaus die Züge einer fiktionalen Dramaturgie in sich trägt. Eine Schwangerschaft und Abtreibung, schön unterschwellig heruntergespielt in der technokratischen Sprache von Hans; oder die Bemühungen, Monikas Mann nicht Verdacht schöpfen zu lassen, indem Hans immer wieder per Bekanntschaftsannoncen neue Freundinnen herschleppt – die wiederum Monika, Hans’ Nebenfrau, eifersüchtig werden lassen. Und als Subtext und fast schon running gag Hans’ notorische Obsession mit Monikas Menstruation, wann und wie lange, wie viele Packungen der Pille noch vorhanden, und vielleicht trotzdem „hochgehen“ und „stecken“?

Nein: Der Inhalt dieses Filmes ist keine Fälschung. Er ist echtes Dokument, unterlegt von den Filmemachern mit Bildern aus Köln, mit Stadt- und Parklandschaften, mit Fassaden, hinter denen jederzeit sich Ähnliches abspielen kann. Denn, auch das macht der Film klar: Das Leben schreibt Geschichten, die sich kein Drehbuchautor ausdenken könnte.

Szenario

Es könnte alles Fake sein. Schließlich ist auch Bram Stokers „Dracula“-Roman zusammengesetzt aus Briefen, Tagebucheinträgen und Mitschriften von – ganz modern – Wachsplatten-Phonographaufnahmen. Ist er deshalb weniger fiktiv?
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