Sing! Inge, Sing!

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die "Lady Jazz" von Deutschland oder: Zur falschen Zeit am falschen Ort

Man traut seinen Augen und Ohren kaum, wenn man diese Frau zum ersten Mal sieht: Wer die Augen schließt und allein der Stimme lauscht, der fühlt sich an Billie Holiday erinnert, auch an Peggy Lee oder andere große Interpretinnen des Jazz. Wer aber ist diese Frau, die wir dann vor uns sehen, sobald wir die Augen wieder öffnen? Wer ist Inge Brandenburg? Genau diese Frage bildet den Ausgangspunkt zu Marc Boettchers Dokumentarfilm Sing! Inge, Sing! über die heute nahezu in Vergessenheit geratene bzw. nur noch Eingeweihten geläufige Jazzsängerin, die einmal als wichtigste europäische Interpretin überhaupt galt.
Wie häufig, so spielte auch hier der Zufall eine entscheidende Rolle. Die Idee zu diesem Film kam dem Regisseur Marc Boettcher durch eine unverhoffte Entdeckung des Sammlers Thomas Rautenberg. Der stieß auf einem Münchner Flohmarkt auf ein altes Fotoalbum mit Aufnahmen einer ihm unbekannten, aber überaus attraktiven Frau. Als er das Album weiter durchblätterte, stieß er auf Autogrammkarten und konnte darüber die Unbekannte identifizieren – es handelte sich um die Jazzsängerin Inge Brandenburg, die unter Experten als die Jazzinterpretin Nummer Eins in Deutschland gilt. Zunehmend fasziniert durch das, was Rautenberg entdeckte und erforschte, kannte seine Sammelleidenschaft bald kein Halten mehr: Es folgten Kleider Brandenburgs, Tonbänder und jede Menge weitere Erinnerungsstücke – Überbleibsel eines Lebens, das beinahe schon dem Vergessen anheim gefallen wäre.

Gemeinsam mit Marc Boettcher, der sich durch seine TV-Dokumentationen über Alexandra (Alexandra, die Legende einer Sängerin), Bert Kaempfert (Stranger in the Night – Die Bert Kaempfert Story) und Gitte Haenning (Ich will alles – Die Gitte Haenning Story) einen Namen als Spezialist für Musikerporträts gemacht hatte, machte sich der Sammler an die langwierigen Recherchen. Das Ergebnis dieser akribischen Wühlarbeit ist ein überaus interessanter Dokumentarfilm, der nicht nur die bewegende Geschichte einer Ausnahmesängerin erzählt, die nicht so recht in die prüde und rigide Scheinmoral Nachkriegsdeutschlands passen wollte. Darüber hinaus zeichnet der Film ein luzides Bild der Bundesrepublik Deutschland in jener Zeit als ein Land, das noch gezeichnet war von den Schrecken und Verboten der Nazizeit – gerade im Bezug auf Musik und künstlerische sowie individuelle Freiheiten.

Mittels vieler Zeitzeugen – unter ihnen Jazzgrößen wie Charlie Antolini und Joy Fleming, Klaus Doldinger, Emil Mangelsdorff und Joana, der Konzertveranstalter Fritz Rau, Udo Jürgens – setzt Marc Boettcher ein weitgehend chronologisches Mosaik zusammen und lässt immer wieder Inge Brandenburg durch zwei Interviews zu Wort kommen. Begleitet durch die auch heute noch unglaublich sinnlichen und expressiven Aufzeichnungen von Inge Brandenburgs Konzerten werden so die Lebensstationen einer ungewöhnlichen und tragischen Karriere sichtbar: 1929 geboren, wuchs Inge Brandenburg in prekären Verhältnissen auf, die von Alkohol, Gewalt und Armut bestimmt waren. Beide Eltern fielen später dem Terror der Nationalsozialisten zum Opfer und starben in den Konzentrationslagern des Regimes – die fünf Kinder des Paares wurden voneinander getrennt und in Heimen für Schwererziehbare untergebracht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelang Inge die Flucht in den amerikanischen Sektor, wo sie versuchte, ihr Leben trotz der traumatisierenden Vergewaltigung selbst in die Hand zu nehmen. Was ihr dabei half, war ihre Liebe zur Musik und vor allem zum Jazz, den sie mittels des amerikanischen Militärradios förmlich in sich aufsaugte. Bald schon beherrschte sich nicht nur das Timbre, das Timing und die Ausdruckskraft amerikanischer Sängerinnen, sondern hatte sich durch das Radio auch einen perfekten amerikanischen Akzent abgelauscht. Was folgte, war ein langes, zähes Ringen um Aufmerksamkeit; der Jazz, von den Nazis als „entartete Negermusik“ verpönt, hatte es in den Nachkriegsjahren immer noch schwer in Deutschland. Die Wende brachte erst ein Engagement in Schweden, neben Frankreich in der damaligen Zeit eine der Hochburgen des europäischen Jazz: Ein Agent war auf sie aufmerksam geworden und vermittelte ihr ein Gastspiel, aus den ursprünglich geplanten vier Wochen wurden so acht Monate. Aus der Suchenden war nun endlich eine geschätzte Interpretin geworden.

Zurückgekehrt und mit neuem Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten und ihr außerordentliches Talent ausgestattet, nahm nun auch ihre Karriere in Deutschland langsam Fahrt auf: Beim Jazzfest 1958 in Frankfurt schlug sie ein „wie eine Rakete“, es folgten bis zum Ende der 1960er Jahre unzählige Gastspiele mit verschiedenen Ensembles wie jenen von Albert Mangelsdorff, Kurt Edelhagen, Klaus Doldinger, Max Greger und Ted Heath. Weniger erfolgreich aber war ihre Plattenkarriere – und das lag vor allem daran, dass die westdeutsche Musikindustrie in ihr keine Jazzsängerin nach amerikanischem Vorbild sah, sondern vor allem eine Interpretin der leichten Muse, eine „Tanzmusikmaus“, deren Schlageraufnahmen aber nicht an ihre Talente und ihre Bedeutung für den deutschen Jazz anknüpfen konnten und ihre Gabe verheizten. Gerade mal eine reine Jazzplatte konnte sie den Bossen der Plattenfirmen aus den Rippen leiern, sie trug den Titel „It’s allright with me“. Dabei war nichts in Ordnung, gar nichts.

Was folgte, waren zwar Engagements in Theatern oder für Fernsehrollen, doch mit dem Jazz, de großen Liebe der Inge Brandenburg, wurde es zunehmend schwieriger, woran die Sängerin über die Jahre zerbrach. Rechtsstreitigkeiten mit Plattenfirmen, Alkoholexzesse und Prügeleien begannen ihren guten Ruf ernsthaft zu beschädigen, eine Stimmbandoperation besorgte den Rest. Später lebte sie von Sozialhilfe und übernahm das Ausführen der Hunde ihrer Nachbarn, um sich ein wenig Geld dazu zu verdienen. Am 23. Februar 1999 starb Inge Brandenburg, kurz nach ihrem 70. Geburtstag. Bei ihrer Beerdigung waren gerade mal sieben Menschen an ihrem Grab versammelt.

Man spürt zwar deutlich, dass Boettchers bisheriges Schaffen vor allem im TV-Bereich angesiedelt war, die Ästhetik und Dramaturgie der Films ist (mit Ausnahme des Vorspanns) äußerst zurückgenommen und zielt vor allem auf Informationsvermittlung ab. Dennoch überzeugt der Film vor allem aufgrund der starken Persönlichkeit Inge Brandenburgs und durch ihre tragische Geschichte. Dabei sind es vor allem jene Momente, in denen die Stimmen schweigen und DIE STIMME, dieses Geschenk der Götter, zu einem Jazzstandard oder einem Bluessong anhebt, die etwas von der Magie dieser Frau vermitteln. In diesen Augenblicken scheint es fast so, als sei diese Stimme, dieser Mensch, immer noch unter uns – und sei es nur als Mahnung daran, dass ein Talent wie dieses allzu leicht zerbrechen kann: An den Umständen, an der Zeit, den Mitmenschen und schließlich auch an sich selbst. Inge Brandenburg war ohne Zweifel für den Jazz geboren und die Erfahrungen ihres Lebens haben ihre Stimme geformt – doch wie heißt es an einer Stelle treffend über sie – sie war einfach zur falschen Zeit am anderen Ort. Unter anderen Umständen, vielleicht auch nur in einem anderen Land, so ist man sich nach diesem Film sicher, wäre sie ein echter Star geworden, vielleicht sogar ein Weltstar. Doch das ist – leider – eine andere Geschichte.

Sing! Inge, Sing!

Man traut seinen Augen und Ohren kaum, wenn man diese Frau zum ersten Mal sieht: Wer die Augen schließt und allein der Stimme lauscht, der fühlt sich an Billie Holiday erinnert, auch an Peggy Lee oder andere große Interpretinnen des Jazz. Wer aber ist diese Frau, die wir dann vor uns sehen, sobald wir die Augen wieder öffnen? Wer ist Inge Brandenburg?
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