Sag nicht, wer du bist (2013)

Neues vom Wunderkind

Xavier Dolan ist ein filmisches Wunderkind. Mit nur 24 Jahren stellt er mit Tom at the Farm bereits seinen vierten Spielfilm vor. Und das nicht irgendwo, sondern im Wettbewerb der 70. Filmfestspiele von Venedig. Wie bereits in seinen vorgehenden Filmen, übernimmt Dolan erneut die Hauptrolle. Die Geschichte jedoch stammt erstmals nicht vom Regisseur selbst, sondern basiert auf einem Theaterstück von Michel Marc Bouchard. Xavier Dolan ergriff mit dieser Adaption die Chance, neue filmische Wege einzuschlagen und — wie er selbst sagt — seine Komfortzone zu verlassen.

Tatsächlich ist Tom at the Farm ein verstörender Film geworden, der menschliche Abgründe offenlegt und seinem Zuschauer das selbst gewählte Martyrium der Hauptfigur weitgehend ungefiltert zumutet. Dabei beginnt die Geschichte zunächst recht harmlos. Tom (Xavier Dolan) fährt zu der Beerdigung seines verstorbenen Partners Guillaume, den er sehr geliebt hat. Zu seiner Überraschung jedoch befindet sich Mutter Agathe (Lisa Roy) in Unkenntnis über die Homosexualität ihres Sohnes. Bruder Francis (Pierre-Yves Cardinal) hingegen scheint im Bilde zu sein. Bereits in der ersten Nacht lauert er Tom auf und verpflichtet ihn unter Gewaltandrohung, seine Beziehung zu dem Verschiedenen für sich zu behalten. Als Tom bei seiner Trauerrede versagt, reicht Verschwiegenheit nicht mehr aus, um den gewaltbereiten Bruder zufrieden zu stellen. Francis verlangt eine Wiedergutmachung. Weil es Agathe glücklich mache, solle Tom auf der Farm bleiben, kräftig mit anpacken und bei jeder Gelegenheit von Guillaumes angeblicher Freundin Sarah erzählen. Und obwohl wir es in Anbetracht der schwelenden Aggression nicht begreifen, bleibt Tom tatsächlich.

Vielleicht ist es ein Ausdruck der Liebe, der anhaltenden Verantwortung für einen geschätzten Menschen. Vielleicht aber ist Toms Entscheidung auch bereits Ausdruck des Machtverhältnisses, das sich zwischen ihm und Francis fortan entspinnt. Es ist verstörend, mit welcher Erotik Xavier Dolan die Szenen von Misshandlung und Erniedrigung inszeniert. Wir verstehen die Beziehung dieser beiden Männer nicht, vermutlich deshalb, weil auch Tom und Francis sie nicht ganz begreifen. Trotz der offensichtlichen gegenseitigen Anziehung, bleibt Francis eine anhaltende Bedrohung.

Die Farm wird mehr und mehr zu einem Gefängnis. Die isolierte Lage des Ortes stellt eine natürliche Mauer dar, aber die eigentliche Gefangenschaft entsteht auf psychischer Ebene. Tom ist nicht in der Lage, sich der Situation zu entziehen. Mit jeder ungenutzten Fluchtmöglichkeit wird die Atmosphäre des Films bedrückender, dichter und spannungsvoller, bis sie den Gänsehautfaktor eines Psychothrillers erreicht.

Dabei verliert Xavier Dolan jedoch das Drama nicht aus den Augen. Tom at the Farm ist ein Film über das Lügen und seine Folgen. Francis und Tom belügen Mutter Agathe, die ihrerseits nur allzu bereitwillig die Augen vor der Realität verschließt. Nicht nur vor der Vergangenheit, in der ein dunkles Familiengeheimnis begraben liegt, sondern auch vor der Gegenwart. Allzu gerne glaubt sie den Ausreden, die Toms blaue Flecke und Verletzungen erklären sollen.

Xavier Dolan wählt eine realistische Darstellungsweise für seine Geschichte, die mit der dramatischen Musikuntermalung zuweilen im Widerspruch steht. Immer dann jedoch, wenn die Musik nicht nur Untermalung, sondern Teil der Handlung ist, entwickeln die Klänge große Kraft. Besonders eindrucksvoll gestaltet sich in dieser Hinsicht eine Tango-Einlage, die gleichsam Bedrohung und Erotik transportierend die komplexe Beziehung der Hauptfiguren in ein Bild übersetzt.

Tom at the Farm ist ohne Frage ein Film über Homosexualität. „Before learning how to love, homosexuals learn how to lie.“ Dieses Zitat des Stückautors Bochard hat für Xavier Dolan besondere Bedeutung, dennoch hat er entschieden, es nicht in den Film einfließen zu lassen. Eine gute Entscheidung, denn dieser klare Hinweis auf den Kern der Geschichte hätte den Interpretationsspielraum deutlich verkleinert. So aber kann Tom at the Farm auch eine Bedeutung entwickeln, die über das Thema heimlicher Homosexualität hinausgeht. Dolans Film erzählt nicht zuletzt auch etwas darüber, wie wir uns manchmal eigene Realitäten erschaffen, um Vertrautes nicht in Frage stellen zu müssen. Eine Komfortzone sozusagen, vielleicht ähnlich jener, die Xavier Dolan mit seinem Film erfolgreich verlassen hat.

(Festivalkritik Venedig 2013 von Sophie Charlotte Rieger)

Sag nicht, wer du bist (2013)

Xavier Dolan ist ein filmisches Wunderkind. Mit nur 24 Jahren stellt er mit „Tom at the Farm“ bereits seinen vierten Spielfilm vor. Und das nicht irgendwo, sondern im Wettbewerb der 70. Filmfestspiele von Venedig. Wie bereits in seinen vorgehenden Filmen, übernimmt Dolan erneut die Hauptrolle. Die Geschichte jedoch stammt erstmals nicht vom Regisseur selbst, sondern basiert auf einem Theaterstück von Michel Marc Bouchard.

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