Once Upon A Time In Anatolia

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

"...heftig, wie wenn im Dunkeln das Telefon klingelt"

Es wiederholt sich sehr viel im Laufe der zweieinhalb Stunden, die dieser Film dauert. Zum Beispiel die fahrenden Autos. Zunächst sieht man nur die Lichter der Scheinwerfer weit in der Ferne, man sieht, wie sie sich langsam, in Echtzeit, ihren Weg durch die finstere anatolische Steppe bahnen, bis sich der Konvoi zum ersten Mal vollständig dem Blick erschließt. Es ist ein Polizeikommando. Im Gepäck befinden sich der Staatsanwalt, ein Kommissar samt Helfern, ein Gerichtsmediziner, ein paar Militärs, ortskundige Bauern und zwei Mordverdächtige, die beschuldigt werden, einen Mann zunächst umgebracht und ihn dann irgendwo im anatolischen Hinterland vergraben haben zu haben.
Ziel der etwas unbeholfenen Expedition ist es, die Leiche so schnell wie möglich zu finden. Die Zeit drängt, der Staatsanwalt ist extra aus der Hauptstadt aufs Land gereist und das Ansehen von Kommissar Cemal steht auf dem Spiel, da er unbedingt diesen Fall erfolgreich abschließen möchte. Es wird noch eine lange Nacht und ein sehr turbulenter nächster Morgen, den sich der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan als Handlungsrahmen für seinen neusten Film Once Upon A Time In Anatolia ausgesucht hat.

Despektierlich könnte man sagen, Ceylans Film sei eine Art „CSI Anatolia“. Doch so sehr es vielleicht den Inhalt des Films treffen würde, wäre man mit dieser verknappten Zusammenfassung mitnichten im Herzen dieses Films, der – wir müssen es so sagen – ein Meisterwerk ist. Ceylan, der für diesen Film den Regiepreis bei den letztjährigen Filmfestspielen in Cannes gewann, präsentiert seine Geschichte über Schuld und Sühne, über Verrat und Loyalität, über Stadt und Land, Mensch und Natur, im Kostüm eines entschleunigten – nicht selten an einen Western erinnernden – Polizeifilms. Sein Kameramann Gökhan Tiryaki arbeitet mit exquisiten Panoramaaufnahmen und langen Einstellungen, in denen die quälende Suche dieser einen Nacht deutlich spürbar wird.

Die Figuren sind wortkarg, aufs Wesentliche bedacht und vermitteln von Beginn an den Eindruck, als würden sie alle möglichst schnell nach Hause wollen. Doch so langsam sich die Autos durch die monumentale Landschaft der Osttürkei auf engen, kiesbedeckten Serpentinen entlang winden, so langsam kommen auch die Konflikte zwischen den Personen zum Vorschein. Kommissar Cemals Wut darüber, dass die Verdächtigen sie immer an die falsche Stellen lotsen, die ständigen Anrufe seiner Frau, die Krankheit seiner Tochter; das Nörgeln des Staatsanwalts, der seinen Job mehr als hasst, der aber schon bald mit dem Gerichtsmediziner ein philosophisches Gedankenspiel beginnt, das die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion ständig verschiebt – all das wäre Stoff für mehrere Filme oder zumindest für eine Dialogwand mit der vielleicht nur Aaron Sorkin fertig werden würde. Die Brillanz von Ceylan besteht nun darin, dass er all die Geschichten seiner Figuren nur durch kleinste Pinselstriche zum Vorschein bringt. Er macht dies auch, weil Ceylan eigentlich eine ganz andere – viel ältere – Geschichte erzählen möchte. Wir merken das im Film an ganz bestimmten visuellen Schlüsselmomenten, die sich regelmäßig (aber nicht vorhersehbar) wiederholen.

Zum Beispiel die merkwürdigen Kameraschwenks, die ganz plötzlich einen Dialog oder eine Szene unterbrechen. Eine autonome Kamera, die sich ganz entfesselt an Details entlang hangelt, alternative Wege durchwandert oder einfach nur beobachtet, wie gleich der Wind durch das Laub fegen wird. Es sind Momente reinster Kontemplation, die allerdings auch etwas erzählen von dieser Landschaft und den Menschen, die sich durch sie bewegt haben, gerade bewegen oder in ein paar Jahren noch bewegen werden. Wie es der Titel schon vollmundig verspricht ist Once upon a time in Anatolia ein Märchen, eine Sage, eine Erzählung, die alle Zeiten umfasst.

Häufig betrachtet Ceylan seine Figuren in unnachgiebigen Close-Ups. Gesichter wie in Stein gemeißelt, die manchmal glühen wie Vollmonde. Und in den tiefen Falten des Kommissars Naci, des mutmaßlichen Mörders Kenan oder des Doktors Cemal sucht der Zuschauer penibel und geladen nach Hinweisen und Spuren, gleich dem Einsatzkommando, das in der ewigen anatolischen Landschaft nach der verscharrten Leiche fahndet.

Once Upon A Time In Anatolia ist – das muss man unumwunden zugeben – ein Regieglanzstück, das stets auch an Filme von Bresson, Kieslowski und Trakowskij erinnert. Ceylan ist ihr würdiger Nachfahre. Der Türke hat bereits mit seinem letzten Film Drei Affen gezeigt, dass er mit seinem Schaffen in eine neue Richtung drängt. Und zwar weg von der direkten Verortbarkeit seiner Handlungen und Figurenkonstellationen wie in seinem bislang besten Film Iklimer – Jahreszeiten, hin zu einer etwas überstilisierten und zeitlosen Metaphysik und Transzendenz. Das brachte ihm von vielen seiner Fürsprecher Kritik ein. Der einfühlsame Autorenfilmer sei – so der Vorwurf – zu einem monotonen Parabelerzähler geworden, dem seine Kunstfertigkeit weit wichtiger sei, als die innere Ordnung seiner Bilder. Es mag sein, dass Drei Affen phasenweise in seiner starren Ästhetik zu ertrinken drohte, doch erscheint der Film nun als notwendiges Brückenwerk. Ein Befreiungsschlag, um nun überwältigend klar und deutlich seiner Handschrift eine neue Dimension zu verleihen.

Ceylan forscht und fahndet weniger nach Motiven oder Taten, er fragt auch weniger nach den Beziehungen zwischen den Figuren; in diesem Film lenkt er seinen Blick auf die Lücken und Leerstellen zwischen Leben und Tod — und versucht in machtvollen Bildern, die dort aufblitzenden Spannungen und Atmosphären – wenn schon nicht sichtbar – dann zumindest spürbar zu machen. In diesem Sinne ist Once Upon A Time In Anatolia durchtränkt von jener geheimnisvollen und durchschlagenden Magie, die nur noch mit den Mitteln der Poesie erfasst werden kann. Und man greift sicherlich nicht zu hoch, wenn man versucht das Klima dieses exzellenten Films mit der kargen und präzisen Sprache des Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer wiederzugeben: „Und alles ist ohne Antwort / und heftig, wie wenn im Dunkeln das Telefon klingelt.“

Once Upon A Time In Anatolia

Es wiederholt sich sehr viel im Laufe der zweieinhalb Stunden, die dieser Film dauert. Zum Beispiel die fahrenden Autos. Zunächst sieht man nur die Lichter der Scheinwerfer weit in der Ferne, man sieht, wie sie sich langsam, in Echtzeit, ihren Weg durch die finstere anatolische Steppe bahnen, bis sich der Konvoi zum ersten Mal vollständig dem Blick erschließt.
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Meinungen

DuDu · 26.01.2012

Nuri Bilge Ceylan ist bekannt für seine melancholischen, sehr schweigsamen Filme. Die Wortarmut die in dem Film herrscht, besticht jedoch durch seine Bilder und durch die Langsamheit in den Handlungen. Dadurch, dass die Personen kaum miteinander sprechen, konzentriert man sich mehr auf die einzelnen Sequenzen und auf die Bedeutung die hinter den Wörtern steckt. Ich fand den Film persönlich nicht schlecht, habe jedoch etwas mehr erwartet. Der Titel "Once upon a time in Anadolu", "Einst in Anatolien" erweckte in mir das Interesse mehr über Anatolien zu erfahren. Die Menschen, die Landschaft. In dem Film geht es um einen Mordfall, welcher aufgedeckt werden soll. Ein Staatsanwalt, Polizist, Arzt, Militär, der mutmaßliche Täter machen sich in der endlosen Nacht auf den Weg, um das Opfer zu suchen. Die Message die ich aus dem Film ziehen konnte, war jene, dass in Anatolien ein Menschenleben nicht viel wert ist. Weil die Menschen selbst nicht genug zum Leben haben. Armut, Arbeitslosigkeit, ja Perspektivlosigkeit. Die Stimmung des Film ist düster, erst gegen Ende hin wird sie etwas aufgelockert und gewinnt an Leben.
Der Mordfall wird nicht richtig aufgelöst, Spuren bleiben verdeckt, weil es einige so haben wollen. Das Private Leid der Angehörigen steht im Hintergrund, verdeckt von Fakten, Machtgier und falschen traditionellen Ansprüchen. Der Arzt und der Staatsanwalt werden verehrt und hochgepriesen. Für was? Trotz allem regt der Film zum Nachdenken an. Man möchte die einzelnen Charaktere im Film verstehen, hinterschauen.