Nirgendland

Eine Filmkritik von Andreas Günther

Im Angesicht des Schmerzes und des Unrechts

Man muss es einfach sagen: Viele Dokumentarfilme, die ins Kino kommen, sind inhaltlich und formal von bedenklicher Beliebigkeit. In einem viel zu großen Niemandsland der Selbstversuche, Personenkulte und agitatorischen Einseitigkeiten erschüttert Nirgendland bis ins Mark. Regisseurin Helen Simon lässt eine Frau, die heute Mitte Fünfzig ist, vom Missbrauch ihres Vaters erzählen, der offenkundig seine Tochter psychisch zerstörte und seine Enkelin in den Tod trieb.
Schön geredet habe sie sich ihre Familie, sagt Tina Reuther, die ihren Namen geändert hat. Man bewundert sie dafür, dass sie das noch so ruhig sagen kann, nachdem ihr die Familie so zum Verhängnis geworden ist. Und nicht nur ihr. Tina Reuther war noch nicht zehn Jahre alt, als der Vater sich an ihr verging. Ihre Mutter, mit fünfzehn nach Kriegsende von Russen nach Sibirien verschleppt, sagt zu ihr: „Das geht vorbei, schrei nicht. Wenn du heiratest, ist alles vergessen.“ Von wegen.

Nach einem Jahr Ehe lässt Tina Reuther sich scheiden. Während sie berufstätig ist, gibt sie ihre Tochter Sabine, genannt Flo, zu den Großeltern. Für Flo beginnt die Hölle. Und ihre Mutter? Sie bricht in Tränen aus, als sie bekennt, sich schuldig zu fühlen, weil sie weggeschaut hat. Mit zwölf haut Flo erstmals ab, nimmt Drogen, prostituiert sich. Vom Missbrauch durch den Opa kann sie lange ebenso wenig erzählen wie ihre Mutter vom Missbrauch durch den Vater.

Nichts sagen, um nicht die Familie zu zerstören. Hört man das Gerichtsprotokoll, das aus dem Off vorgelesen wird, wirkt dieses Motiv für das Gericht äußerst befremdlich. Man weiß, dass es nichts weniger ist als das. Zunächst einmal ist da die psychische Macht des Täters über seine Opfer. Das Furchtbarste ist, dass die Opfer sich schuldig fühlen. Wie die Worte dafür finden, wenn die Erinnerungen doch durch Traumatisierung blockiert sind. Und wem soll man sich anvertrauen? Die Mutter hört Flo zu, will aber nicht schuldig sein. Eine Freundin von damals äußert sich einfühlsam über Flo und scheint doch im Rückblick bisweilen nur am kuriosen Charakter interessiert. Aber den verheerendsten Eindruck macht die Gerichtsbarkeit — eine Gerichtsbarkeit des Jahres 2002.

Helen Simon vertraut auf die Aussagen weniger Personen, Personen, die wiederum ihr vertrauen. Wenn sie Tina Reuther in dem Haus besucht, das diese zusammen mit ihrer Lebensgefährtin bewohnt, entsteht schnell eine bedrückende Stimmung, die zwischen den Gesprächen akustisch durch Hallgeräusche und leises Tropfen betont wird. Am Beginn fährt die Kamera langsam auf das Haus von Tina Reuther zu, am Schluss fährt sie langsam zurück in nasskaltem Wetter. Natürlich stehen die Häuser der Siedlung, die dabei außerdem gezeigt werden, nicht im Zusammenhang mit dem Film – eine entsprechende Bemerkung im Abspann ist eigentlich überflüssig. Aber was die Kamerabewegung sagen will, nämlich, dass jeder aufmerksam zu sein hat, das zählt. Damit wir nicht wie in Nirgendland in das Antlitz von Schmerz und erlittenem Unrecht schauen.

Nirgendland

Man muss es einfach sagen: Viele Dokumentarfilme, die ins Kino kommen, sind inhaltlich und formal von bedenklicher Beliebigkeit. In einem viel zu großen Niemandsland der Selbstversuche, Personenkulte und agitatorischen Einseitigkeiten erschüttert „Nirgendland“ bis ins Mark. Regisseurin Helen Simon lässt eine Frau, die heute Mitte Fünfzig ist, vom Missbrauch ihres Vaters erzählen, der offenkundig seine Tochter psychisch zerstörte und seine Enkelin in den Tod trieb.
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