Nellys Abenteuer

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Durch das wilde Transsilvanien

Eins darf man schon mal sagen: Dass ihnen die Tochter wegläuft, das haben diese Eltern sich redlich verdient. Denn wer kommt schon bitte auf die Idee, einem 13-jährigen Kind zu verschweigen, dass man zwar in den Sommerferien nach Rumänien fährt, dann aber dort auch gleich bleiben wird, weil der Vater anschließend dort arbeiten wird? Kein Wunder also, dass das Kind ob dieser Nachricht rebelliert („Wie krass ist das denn? Ich zieh doch nicht in dieses Scheißland!“) und in die Nacht, ins fremde Land hinein abhaut. Und ab da gehen die Dinge ja erst so richtig schief.
Nelly Klabund (Flora Li Thiemann) ist schon vorher gelegentlich zickig, aber das ist dem Alter angemessen: „Viel zu nass draußen, ich bin ja kein Fisch.“ Die Eltern (Julia Richter und Kai Lentrodt) nerven eh – Mama ist zu viel daheim, Papa baut Windkraftanlagen, das scheint ihm die Lösung vieler Probleme zu sein, im täglichen Leben ist er jedoch gelegentlich ein wenig ungelenk. Im Urlaub geht es also irgendwo in den Osten, Transsilvanien ist nicht weit, und da ist es nicht nur fremd, sondern auch nicht unbedingt subtil abstoßend: Die Pastete ist mit Schweinehirn gemacht, der Schnaps selbstgebrannt und eine Taube kackt auf Nellys Jacke.

Dann wird Nelly entführt – die Gesamtgeschichte dazu ist ein wenig durcheinander, letztlich geht es ums Geld: Ein deutscher Unternehmer (Gustav Peter Wöhler) will nicht, dass die Windräder entstehen, weil er ja selbst für seinen Staudamm ein Tal mitsamt Dörfern fluten lassen will. Nelly ist also Faustpfand, wird irgendwo auf einem Dorf versteckt, wo sie sich aber schnell mit den Roma-Kindern Roxana (Mihai Raisa) und Tibi (Hagi Lacatus) anfreundet.

Das ist alles ganz nett erzählt, fühlt sich jedoch noch wesentlich konfuser an, als es sich zunächst anhört. Vor allem ist Dominik Wesselys Film – nach einem Drehbuch von Jens Becker und Uta Kolano – aber leider viel zu wohlmeinend. Nellys Abenteuer ist ein wenig Roadmovie, vor allem aber Bildungsreise: Kind aus dem Bildungsbürgertum – ein wenig verwöhnt, spielt Querflöte – lernt die echte Welt und das wahre Leben der Roma kennen.

Das ist, wie gesagt, gut gemeint, und alles nicht einmal falsch; es ahmt aber in allen seinen Schritten und Szenerien eine Perspektive nach, die herablassend, fast kolonialistisch ist. Alle Protagonisten mit Macht und Einfluss sind Deutsche, der rumänischen Polizei kann man aber anscheinend nicht trauen. Leider wirken auch die Eltern irgendwie nicht so richtig überzeugend in ihrer Verzweiflung ob der verschwundenen Tochter – ein wenig mehr Hysterie, etwas weniger Komödie hätte da dem Film womöglich gutgetan. Die Rumäninnen und Rumänen sind zwar fast alle herzensgut, aber im Zweifel schwach oder arme Handlanger der Deutschen. Im Dorf der Roma, das natürlich nur einen einzigen Wasseranschluss hat, sind die Menschen fröhlich und wird gerne Musik gemacht.

Nichts davon ist überraschend, weil es so genau den Klischees entspricht, die man von Rumänien hat. „Wir wie Scheiße am Schuh von Europa“, nennt eins der Roma-Kinder den Zustand seines Landes – und das mag stimmen, aber es wird zu keinem Zeitpunkt das herausgefordert, was wir sowieso schon denken. Alle Entscheidungen, alle wesentlichen Handlungsschritte aber gehen von den Deutschen aus, die Geld und Fähigkeiten mitbringen; als gebe es keine eigenen Ingenieure im Land.

Das ist schade, denn eigentlich hätte man über das Leben der Roma zum Beispiel gerne mehr gewusst nach diesem Film. Aber dafür hätte es eine Protagonistin wie Roxana sein dürfen. Vielleicht beim nächsten Mal?

Nellys Abenteuer

Eins darf man schon mal sagen: Dass ihnen die Tochter wegläuft, das haben diese Eltern sich redlich verdient. Denn wer kommt schon bitte auf die Idee, einem 13-jährigen Kind zu verschweigen, dass man zwar in den Sommerferien nach Rumänien fährt, dann aber dort auch gleich bleiben wird, weil der Vater anschließend dort arbeiten wird?
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Meinungen

Dominik Wessely · 20.09.2017

Sehr geehrter Rochus Wolff,
ich beziehe mich auf Ihre Besprechung meines Films "Nellys Abenteuer", die Sie auf Kino-Zeit.de veröffentlicht haben. Natürlich wünscht man sich als Filmemacher immer, erst einmal verstanden zu werden. Wenn das - wie in Ihrem Fall geschehen - nicht eintrifft, verursacht es, ich gebe es zu, eine gewisse Enttäuschung, was letztlich unerheblich, weil ohnehin nicht zu ändern ist. Der Anlass meiner Zeilen sind aber nicht mutmaßliche Gefühle der Kränkung, es ist schlicht der Ärger, den Ihre Besprechung in mir geweckt hat. Und der beruht nicht auf Ihrer kritischen Auseinandersetzung mit meiner Arbeit als Regisseur, sondern auf der insgesamt doch sehr herablassenden Haltung, die meines Erachtens Ihrer gesamten Besprechung zugrunde liegt. Sie werfen mir vor, eine "wohlmeinende Bildungsreise" inszeniert zu haben, deren Haltung "herablassend, fast kolonialistisch" ist. Die Rumäninnen und Rumänen seien zwar fast alle herzensgut, aber im Zweifel schwach oder arme Handlanger der Deutschen. Alle Entscheidungen, alle wesentlichen Handlungsschritte gingen von den Deutschen aus, die Geld und Fähigkeiten mitbringen; als gebe es keine eigenen Ingenieure im Land. Angesichts dieser Zeilen frage ich mich, welchen Film Sie gesehen haben? Ist Ihnen wirklich entgangen, dass die Rumänen im Film, allen voran die Roma starke und eigenwillige Charaktere sind, die sehr wohl in der Lage sind, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und die dies auch tun? (siehe Mama Roza, siehe ihre Kinder Tibi und Roxana) Wäre dem nicht so, würden gerade die Kinder unter unseren Zuschauern nicht so stark auf diese Figuren reagieren. Wenn Sie das nicht überzeugt, empfehle ich Ihnen, einmal einen Blick auf die Festivalseiten des TIFF zu werfen. Dort, in Cluj, haben wir „Nellys Abenteuer“ im Mai 2016 zum ersten Mal überhaupt präsentiert. Vor siebenhundert Zuschauern, unter denen ungefähr 500 Romakinder waren. Wie, denken Sie, haben die reagiert? Sie haben gejubelt und dem Film mehr als ein Dutzend Mal Szenenapplaus gespendet. Festivaldirektor Tudor Giurgiu schrieb anschließend in seinem Festivalblog: „So etwas habe ich in 15 Jahren Festivalgeschichte nicht erlebt.“ Glauben Sie allen Ernstes, der Film wäre derartig aufgenommen worden, wenn die Rumänen und Roma im Publikum das Gefühl gehabt hätten, hier sei ein Filmemacher aus dem Westen gekommen und habe sich herablassend oder gar kolonialistisch ihrer Geschichte bedient? Oder halten Sie die Menschen in Rumänien schon für so entfremdet, dass sie nicht mehr in der Lage sind, selbstbestimmt über einen Film zu urteilen? Das wäre dann tatsächlich ein kolonialistischer Denkansatz... Sie merken weiter an, wir würden Rumänien- bzw. Roma-Klischees reproduzieren, unter anderem würden wir ein Roma-Dorf zeigen, in dem es nur einen einzigen Wasseranschluss gebe. Wenn Sie die Darstellung dieser Sachverhalte als Klischees kritisieren, gehe ich davon aus, dass Sie Landeskunde besitzen und Rumänien bereist haben? Auch Roma-Dörfer? Ich kann Ihnen versichern, dass wir in mehr als einem Dorf auf Recherchen unterwegs waren, und dass die von uns geschilderten Verhältnisse keine Klischees sind; sie sind bittere Realität. Wenn all diese Zusammenhänge Sie nicht zu interessieren vermögen, dann ist das ganz bestimmt kein Problem des Films. Den Vorwurf, Klischees zu reproduzieren weise ich jedenfalls zurück, er fällt auf Sie zurück. Genauso wenig zielführend ist ihr (herablassend wohlwollend gemeinter) Ratschlag, es das nächste Mal mit einem Film zu versuchen, in dem eine Roma die Hauptrolle spielt. Stellen Sie sich doch bitte mal für einen Augenblick vor, dass das gar nicht mein Interesse war. Dafür, dass „Nellys Abenteuer“ nicht Ihre Erwartungen erfüllt hat, kann ich nun wirklich nichts. Dies dem Film vorzuwerfen, empfinde ich als unredlich und einer ernsthaften Auseinandersetzung mit einem Film nicht angemessen, an dem der einige der daran Beteiligten ein Jahrzehnt lang gearbeitet haben. Wir fanden es wichtig und richtig, hierzulande bei Kindern ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass es mitten in Europa, gerade einmal eineinhalb Flugstunden von Deutschland entfernt, eine Welt gibt, die durchaus fremd und anders ist und die nach ganz anderen Regeln geordnet ist als die, in der viele deutsche Kinder aufzuwachsen gewohnt sind. Dass die Begegnung mit dem Fremden nicht nur Angst verursachen muss, sondern ein Gewinn für das eigene Leben sein kann, diese Erkenntnis ist in Zeiten um sich greifender Xenophobie keine geringe. Ich verstehe nicht, warum Sie das als „Bildungsreise“ meinen abtun zu müssen. Zu Guter Letzt noch eine kleine Anekdote: Wenige Wochen nach der Welturaufführung haben wir „Nellys Abenteuer“ in Sibiu in einer Open Air-Vorführung vor 2400 Zuschauern präsentiert. (unter den Zuschauern befanden ich im Übrigen auch zahlreiche Roma)
Die Reaktionen waren einhellig positiv bis begeistert. Im Anschluss an diese Vorführung kamen wir mit einer Gruppe junger Menschen aus Deutschland ins Gespräch, die in Rumänien ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren und die vor Ort Sozialarbeit mit Roma leisten. Ein Mädchen (19) aus Baden-Württemberg berichtete uns davon, dass ihr ein Rumäne treuherzig im Gespräch anvertraut habe, wenn es nach ihm ginge, solle man sämtliche Roma umbringen, dann sei endlich Ruh. Gerade weil wir um diese Art von Rassismus wissen, war es uns ein Anliegen, eine Freundschaftsgeschichte zwischen einem deutschen Mädchen und zwei Romakindern zu erzählen; diese Freundschaft ist nur möglich, weil die handelnden Figuren die Kraft haben, ihre eigenen Vorurteile zu überwinden. Es ist sehr schade, dass Sie das nicht sehen konnten.

Mit freundlichem Gruß
Dominik Wessely

Jo · 25.07.2016

Interessante Rezension...Ich hatte mich auf den Film gefreut, aber bin jetzt etwas skeptisch geworden. Natürlich lassen sich Klischees gerade in Kinderfilmen nicht leicht vermeiden und die Armut vieler Roma-Gemeinden ist leider Realität, nicht nur in Rumänien. Ich hoffe sehr, dass der Film die Schönheit und Kultur der Region würdigt, denn Siebenbürgen hat wirklich viel zu bieten, aber ist noch touristisches Neuland für viele. Von der "Pastete mit Schweinehirn" habe ich vorher noch nie gehört, obwohl ich Siebenbürger Sachse bin, aber vielleicht gibt es sie ? Das traditionelle Essen ist sonst sehr zu empfehlen: Hermannstädter Salami und andere Spezialitäten werden wahrscheinlich auch hier bald im Handel erhältlich sein. Es ist etwas schade, dass es scheinbar eine Art Krimi-Story ist, denn es gibt weniger Kriminalität in Rumänien als in Deutschland, was wahrscheinlich daran liegt, dass die Menschen dort stark religiös sind, aber Korruption ist schon noch eine Realität, die nur langsam verschwinden wird, wenn alle ein besseres Einkommen haben. Was die von Ihnen kritisierte Perspektive betrifft, die "herablassend, fast kolonialistisch" sei, so bin ich gespannt, ob es wirklich so schlimm ist...Ich muss zugeben, dass es mich irritiert hat, wie bereits im Trailer von einem "Scheißland" die Rede ist. Auch wenn es nur eine 13-jährige, verzogene Göre ist, was würde man in Deutschland denken, wenn ein rumänisches Film-Team hier einen Kinderfilm dreht und dann das "Scheißland Deutschland" in ihrem Kinderfilm thematisiert ? Es kommt sicher auf den Kontext an und ich will nicht vorschnell urteilen, aber es hat mich fast ein wenig an den rassistischen Alan Parker - Film "Midnight Express" erinnert, wo die Türkei ganz offen als "ein Volk von Schweinen" bezeichnet wird. Der Film tut allen Beteiligten heute sehr leid...Für einen Kinderfilm finde ich es zu drastisch
und es kommt überheblich rüber. Hoffentlich ist Herr Wessely der typisch deutschen Überheblichkeit entkommen...bin gespannt.

PS: Die Darstellerin der 'Roxana' heißt Raisa Mihai. Mihai ist ihr Nachname. Bitte korrigieren. Danke.