My Talk with Florence (2015)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Leben, ungefiltert

Vordergründig ist Paul Poets faszinierendes Interview My Talk with Florence eine ungeschnittene, fast zweistündige, schonungslose Aufarbeitung der nahegehenden Vergangenheit von Florence Burnier-Bauer. Schon in ihrer Kindheit wurde die Frau häufiger von Großvater und Vater missbraucht, dann lebte sie zwischen Irrenhäusern und Vagabundendasein bevor sie mit ihren Kindern in der Otto-Muehl-Kommune in Friedrichshof landete. Der Film besteht aus zwei Tapes, die von kurzen und merkwürdig knalligen Zwischensequenzen mit Fotos und Zitaten unterbrochen werden und sonst ohne Unterbrechung ablaufen. Im ersten Tape erzählt Florence viel von ihrer Jugend und ihrem Leben an sich, im zweiten Teil geht es spezifischer um das Leben in der Kommune. Wenn man etwas genauer hinsieht, offenbaren sich im Film jedoch feine und gefährliche Linien zwischen ethischen Fragen, Voyeurismus, Empathie und Selbstdarstellung.

Es ist ein schmaler Grat, den Paul Poet da wählt. Die Offenheit, mit der das Thema Missbrauch angegangen wird, ist zum einen beeindruckend, aber zum anderen scheint sie auch von einer lüsternen Sensationsgier angetrieben. So zoomt die Kamera von Johannes Holzhausen immer wieder in froher Erwartung eines emotionalen Ausbruchs bei komplexen Fragen auf das Gesicht der außergewöhnlichen Frau. An anderer Stelle lässt Poet nicht locker, als er nach Prostitution fragt. Aber so einfach ist das nicht, denn My Talk with Florence ist ungeschnitten und macht sie dadurch ganz bewusst angreifbar. So bemerkt man, dass der Zoom auf das Gesicht meist im Moment der Frage kommt und nicht, wenn Florence selbst einen Ausbruch hat. Oft reagiert sie widersprüchlich zur Kamerabewegung, ihre Freiheit wird bewahrt. An einer anderen Stelle wird noch schnell ein Foto im Hintergrund umgedreht, weil es den Vater von Holzhausen zeigt. Immer wieder laufen Fragen ins Leere, werden anders beantwortet als intendiert und dadurch, dass wir jede Frage von Poet völlig nackt präsentiert bekommen, werden die Fragen selbst zu einem Gegenstand der Reflektion. Er fungiert gewissermaßen als Trigger und dadurch werden Mechanismen der Verdrängung sichtbar.

Aber auch die Antworten sind oft eine Frage. Gleich zu Beginn präsentiert die starke und doch zitternde Frau eine zerstörte Kinderpuppe, die Teil eines persönlichen Kunstprojekts über den Missbrauch an ihrer Person ist. Es wäre für den Effekt. Immer wieder fragt man sich bei ihren Antworten, ob und wie wahr sie sind. Gibt es da Übertreibungen, Auslassungen und wie funktionieren Erinnerungen an solche Traumata? Offenheit bedeutet auch nicht immer gleich, dass alles gleich ehrlich und präzise formuliert werden kann. Die Subjektivität und Freiheit der Erinnerungen von Florence dominieren die Richtungen des Gesprächs. In diesem Sinn ist My Talk with Florence ein Film über Selbstdarstellung und Selbstanalyse. Oft kommt man sich sowieso vor wie in einer psychologischen Sitzung, in der nicht immer sensibel („Hast du das Heroin gespritzt oder geraucht?“), aber jederzeit offen mit schwierigen Themen umgegangen wird. Die Tatsache, dass der Film wohl hochinteressantes Anschauungsmaterial für Psychologiestudenten ist, macht seinen Reiz und auch seine ethische Provokation aus.

Eine der entscheidenden Fragen an den Zuseher dabei ist: Will man das hören? Eine gewisse Unerträglichkeit stellt sich schon ein, wenn man über zwei Stunden mit in diese Welt gezogen wird. Man geht ins Kino und jemand setzt sich vor einen und erzählt von seinem Leben. Es ist erstaunlich, wie fasziniert man schon nach einigen Minuten zuhört. Man fragt sich, ob da der eigene Voyeurismus, die eigene Lust am Krassen durchschaut oder ob man tatsächlich aus einem empathischen Interesse zuhört. Somit kann man an sich selbst genauso zweifeln, wie am Film. Dieses gefährliche Spiel hat also viele verschiedene Ebenen.

Eigentlich entstand der Film als Teil eines Theaterprojekts und ist in mancher Hinsicht ein zufälliges Produkt, Found Footage aus dem eigenen Arbeitsprozess. Dadurch entsteht eine Direktheit, die Glaubwürdigkeit vermittelt. My Talk with Florence ist auch aufgrund seiner Vermeidung einer emotional aufgeladenen Vergangenheitsbewältigung einer jener Filme, bei denen man sagen könnte: In einer idealen Welt würden so unsere Fernsehsendungen ablaufen. Der Vorteil am Kino ist klarerweise unser Gefangensein im Angesicht dieser Frau, die wir nicht wegklicken können. Welcher Druck auf ihren Aussagen lastet, ist an den Bewegungen ihrer rechten Hand zu erkennen. Nervös streicht sie damit unablässig über die Armlehne und Rückenlehne des Ledersessels, in dem sie sitzt. Vor uns entsteht eine filmische Konfrontation, die wir vielleicht vermeiden wollen, aber nicht können.
 

My Talk with Florence (2015)

Vordergründig ist Paul Poets faszinierendes Interview „My Talk with Florence“ eine ungeschnittene, fast zweistündige, schonungslose Aufarbeitung der nahegehenden Vergangenheit von Florence Burnier-Bauer. Schon in ihrer Kindheit wurde die Frau häufiger von Großvater und Vater missbraucht, dann lebte sie zwischen Irrenhäusern und Vagabundendasein, bevor sie mit ihren Kindern in der Otto-Mühl-Kommune in Friedrichshof landete.

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Meinungen

Eleonora Roth · 31.01.2016

Super gutes Interview, von einer großartigen Frau. Ehrlich, offen, einzigartig. Tolle Frau. Wünsche Florence alles erdenklich Liebe für ihr weiteres Leben.
Liebe Grüße Ella, Jazzgalerie Nickelsdorf