Manchester by the Sea (2016)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Das Leben, ein Chaos

Beim Versuch, eine adäquate, nicht klischierte audiovisuelle Vermittlung von Verlust und Trauer zu finden, kann ein Film viel falsch machen. Das fängt beim Erhalt der Todesnachricht an, die in unzähligen Produktionen in ähnlicher Weise gestaltet wird und dadurch längst zur Formel erstarrt ist: Die Kamera beobachtet eine Figur aus der Distanz, wie sie angesichts des Ablebens eines geliebten Menschen in sich zusammensackt (Steven Soderbergh nennt diese Darstellungsoption laut Matt Damon „den Sack“). Und es setzt sich fort mit melancholischen Blicken aus Fenstern in eine vorzugsweise verregnete Außenwelt, die als Seelenlandschaft fungiert und dabei reichlich einfallslos anmutet. Nicht zu vergessen: das Schwelgen in Erinnerungen mithilfe von alten Videoaufzeichnungen oder Fotos – und der hoffnungsvolle Moment gegen Ende, der darauf hindeutet, dass es bald wieder besser wird, dank eines klärenden Gesprächs, einer neuen Freundschaft oder Liebe.

Auch Manchester by the Sea erzählt von Verlust und Trauer – man wird allerdings rasch feststellen: Dieser Film kommt ohne eine einzige Abgedroschenheit aus. Das Werk des Regisseurs und Drehbuchautors Kenneth Lonergan ist meilenweit von einer Wohlfühl-Dramödie entfernt – und doch kombiniert er Tragik mit Humor. Zum Lachen animiert hier wiederum nie eine forcierte Schrägheit der gezeigten Figuren oder Situationen, sondern die geradezu schmerzhafte Realitätsnähe, die durch verbale sowie nonverbale Missverständnisse, Fehlleistungen, Tücken des Objekts oder das Nebeneinanderliegen von Einschneidendem und Banalem erzeugt wird. Die Gesinnung ist ernst, der Gefühlston hoch – aber die oft alberne, lärmende, lästige Wirklichkeit wird nicht ausgeblendet; sie ist Bestandteil jeder Szene. So mischt sich etwa auf einer Trauerfeier das Vibrieren eines Mobiltelefons in die nondiegetischen Klassik-Klänge, während beim Abtransport mit dem Rettungswagen in einer zutiefst erschütternden Passage der Mechanismus einer Tragbahre versagt – oder eine höchst emotionale Auseinandersetzung in der Kälte zwischen Onkel und Neffe immer wieder dadurch unterbrochen wird, dass die beiden das geparkte Auto nicht wiederfinden können und deshalb frierend umherirren.

Im Zentrum der Geschichte steht der verschlossene Lee Chandler (Casey Affleck), der für eine Hausmeisterfirma in Boston arbeitet. Er lebt in einer kleinen Wohnung, betrinkt sich in Bars und zettelt Schlägereien an, statt auf Flirts einzugehen. Eines Tages erhält er einen Anruf: Sein älterer Bruder Joe (Kyle Chandler), der an einer Herzschwäche leidet, wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als Lee im Fischerstädtchen Manchester – seiner ehemaligen Heimat – eintrifft, ist es bereits zu spät; Joe ist tot. Kurz darauf erfährt Lee, dass er zum Vormund seines 16-jährigen Neffen Patrick (Lucas Hedges) bestimmt wurde. In Rückblenden entbirgt sich, weshalb Patricks Mutter Elise (Gretchen Mol) aus dem Leben des Jugendlichen verschwand – und was Lee widerfuhr, der einst mit seiner Ehefrau Randi (Michelle Williams) und drei gemeinsamen Kindern ein chaotisches, aber glückliches Dasein führte.

Casey Affleck lieferte schon in Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford oder Gone Baby Gone (beide aus dem Jahr 2007) gute Leistungen – doch seine Performance in Manchester by the Sea ist nicht nur die beste Darstellung seiner bisherigen Karriere, sondern auch eine der eindringlichsten, überzeugendsten Interpretationen einer traumatisierten Person, die jemals auf der Kinoleinwand zu sehen war. Lee kann seiner Trauer, seinem Schmerz und Selbsthass nicht entfliehen; nur äußerst widerwillig begibt er sich aus der Isolation. Diverse Einschübe aus der Vergangenheit zeigen den jungen Mann hingegen als lebenslustigen Bruder, Onkel, Gatten, Vater und Kumpel. Affleck spielt diesen gebrochenen Menschen bemerkenswert zwingend, sodass Lees Bedrückung auch in den ‚leichteren‘ Augenblicken des Films stets spürbar bleibt. Ebenfalls erstklassig ist das Ensemble, das Affleck umgibt. Lucas Hedges (The Zero Theorem) verkörpert einen rundum glaubhaften Teenager, dessen Welt sich altersgemäß um erste sexuelle Erfahrungen, Sport und Musik dreht – und der sich dennoch mit existenziellen Fragen und übergroßen Gefühlen befassen muss. Auch Kyle Chandler und Gretchen Mol erfüllen ihre Rollen mit Leben; Michelle Williams brilliert als Lees (Ex-)Frau mit einer beispiellosen schauspielerischen Wucht – insbesondere eine Gegenwartsszene im letzten Filmdrittel zwischen Lee und Randi geht unfassbar nahe.

Die verschachtelte Erzählstruktur, die uns vieles erst nach und nach begreifen lässt, wirkt niemals effekthascherisch; sie macht nachvollziehbar, wie die qualvollen Erinnerungen allmählich zu Lee zurückkehren. Im Verlauf der Handlung vermeidet der Film einfache Antworten und Lösungen. Manchester by the Sea ist ein exzeptionelles Werk – authentisch und feinfühlig umgesetzt. Neben dem klugen Drehbuch und dem hingebungsvollen Cast ist nicht zuletzt das Produktionsdesign beachtlich: Die Innenräume – beispielsweise Lees Wohnung oder das mit Gerümpel angefüllte Haus von Lees Familie in den Rückblenden – wirken nicht wie eine Working-Class-Kulisse, sondern wie die Lebensräume echter Menschen.
 

Manchester by the Sea (2016)

Beim Versuch, eine adäquate, nicht klischierte audiovisuelle Vermittlung von Verlust und Trauer zu finden, kann ein Film viel falsch machen. Das fängt beim Erhalt der Todesnachricht an, die in unzähligen Produktionen in ähnlicher Weise gestaltet wird und dadurch längst zur Formel erstarrt ist: Die Kamera beobachtet eine Figur aus der Distanz, wie sie angesichts des Ablebens eines geliebten Menschen in sich zusammensackt (Steven Soderbergh nennt diese Darstellungsoption laut Matt Damon „den Sack“).

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Meinungen

Dirk · 21.03.2017

Bester Film seit langer Zeit. Wichtig das OmU zu gucken, die Synchronisation macht so vieles Anders in den Charakteren und Dialogen.
Interessante, introvertierte Darstellung - was passiert wenn das Leben auf einmal nicht mehr lebenswert ist. Starke Nebenrollenbesetzung fuer den Neffen und seine Frau! Ein Film voller versteckter Gefuehle, und doch kein Melodram.

Tom Rot · 05.03.2017

Schwache fast dümmliche Dialoge. War drauf und drann schon nach einer halben Stunde zu gehen und das hätte ich auch tun sollen.

Karl Raab · 26.01.2017

Merkwürdiger Film: Hauptdarsteller mit schwer nachvollziehbaren aggressiven Handlungen, die auch durch die zahlreichen Rückblenden m.E. nicht hinreichend motiviert erscheinen; überdehnt und langsam.