Live by Night

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Hüte, Modell T und Ben Affleck

Der Unterschied zwischen einem Outlaw und einem Gangster spielt in Live by Night eine wesentliche Rolle. Gleich zu Beginn erklärt Joe Coughlin (Ben Affleck) aus dem Off, dass er nach seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg entschieden hat, keinerlei Befehlen mehr zu folgen. Er hat zu viele gute Männer aus den falschen Gründen sterben sehen, also will er nun das Leben genießen – bei Nacht frei und unabhängig sein, ein Outlaw sein. Also wendet er sich von seinem Polizistenvater (Brendan Gleeson) ab und raubt mit seinem Kumpel Dion (Chris Messina) und dessen Bruder im Boston des Jahres 1926 eine Pokerrunde aus. Das Hinterzimmer, in dem das illegale Spiel stattgefunden hat, gehört zu einer Bar, die unter dem Schutz von Albert White (Robert Glenister) steht. Allein damit handelt sich Joe jede Menge Probleme ein, denn Albert White ist nicht irgendein Gangster, sondern einer derjenigen, die in Boston das Sagen haben. Hinzu kommt außerdem, dass sich Joe in Albert Whites Geliebter Emma Gould (Sienna Miller) verliebt hat. Also wittert der zweite Gangster, der in Boston etwas zu sagen hat, Mafia-Boss Maso Pescatore (Remo Girone), eine Chance, dass Joe für ihn Albert aus dem Weg räumen könnte und er damit den profitablen Alkoholschmuggel zur Zeit der Prohibition alleine beherrschen kann. Aber Joe lehnt dieses Angebot an, da er ja kein Gangster sein will – und damit beginnt der kurze Fall und lange Wiederaufstieg des Joe Coughlin.
Schon bei Ausstattung ist zu sehen, dass Ben Affleck, der in der Verfilmung von Dennis Lehanes großartigem Kriminalroman In der Nacht nicht nur die Hauptrolle übernommen hat, sondern auch das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hat, alles richtigmachen wollte. Die Kostüme, die Ausstattung, die Musik, die Menschen sollen die 1920er Jahre in Boston zum Leben erwecken. Tatsächlich gelingt anfangs recht gut: Die Clubs und Straßen changieren zwischen schmuddelig und glamourös, allein schon die Besetzung mit Brendan Gleeson als Coughlins Polizistenvater verweist auf die bedeutende Rolle der irischen Einwanderer sowohl innerhalb des Polizeiwesens als auch der Verbrecherorganisationen und Sienna Miller legt in ihren starken irischen Akzent sowohl Herkunft als auch Klassenbewusstsein. Allerdings schleichen sich schon hier erste Irritationen ein: alles wirkt ein wenig zu gewollt. Millers Akzent ist zu ausgestellt, die T-Modell-Polizeiautos ein wenig zu sauber, die Gangster und Outlaws ein wenig zu lässig. Dennoch ist in Boston alles ausreichend, damit Live by Night nicht wie Gangsterdramen wie Legend oder Gangster Squad allein an dem Versuch scheitert, eine sagenumwobene Gangster-Ära zu zu neuem Leben zu erwecken.

Sobald aber Joes Weg ihn nach Florida führt und er in Tampa zum König des Rum-Schmuggels aufsteigt, verliert der Film zu viel von seiner Atmosphäre. Hier umgibt er sich mit Kubanern, Afro-Amerikanern und Native Americans, aber trotz aller Musik, trotz der Zigarren, trotz Zoe Saldanas perfekt in Szene gesetzter Figur bleibt alles Kulisse. Ohnehin ist Zoe Saldana eine der vielen leeren Versprechungen des Films: Eingeführt wird sie als die Frau, die mit ihrem Bruder Melasse von Kuba nach Florida verschifft und damit die Grundlage des Rums liefert. Sie erscheint intelligent, gerissen und kalkuliert, aber schon bald wird sie zu funktionalen Nebenfigur, zur Frau an Joes Seite, die seine Menschlichkeit und Romantik betonen soll und nicht will, dass er sich durch Gewalt verändert – als wüsste sie nicht viel zu gut, wie das Leben für Menschen wie Joe und sie aussieht. Aber nicht nur die Figur von Zoe Saldana, auch alle anderen weiblichen Nebenfiguren sind verschenkt, obwohl sie so perfekt besetzt erscheinen: Elle Fanning als gefallene Unschuld Loretta Figgis vermag in den leisen Szenen zu reüssieren, sobald sie aber als geläuterte Priesterin die Massen in ihren Bann ziehen soll, gelingt es nicht, die Anziehungskraft oder Stärke zu zeigen, die von ihrer Figur laut Drehbuch ausgeht. Sienna Miller ist quirlig, berechnend, ein wunderbar schäbiger Abglanz einer Femme fatale, aber ihre Rolle ist zu klein und wird letztlich auch dazu genutzt, Joes romantische Seite zu betonen.

Aber in Gangsterfilmen sind sowieso in aller Regel die Männer entscheidend – und hier erweist sich ausgerechnet Ben Affleck als die größte Schwachstelle des Films: Abgesehen davon, dass es bereits schwerfällt, dem mittlerweile 44-Jährigen den leichtsinnigen, leidenschaftlichen, stürmischen Liebhaber-Jüngling abzunehmen und er allein mit seiner breitschultrigen Statur stets aus der Masse herausragt, vermag er es nicht, aus Joe eine mehrdimensionale Figur werden zu lassen. Ein junger, dann älter werdender Mann, der sich von der Familie voller Polizisten abwendet, um illegalen Aktivitäten nachzugehen, der von der Frau, die er liebt, verraten wird, der stets auf der Hut sein muss und dennoch darum ringt, sich einen Kern Menschlichkeit zu bewahren, hat nicht eine Art von Traurigkeit in sich. Doch Ben Affleck schaut wiederholt traurig in die Kamera, sein Gesicht ist dann stets mittig auf der Leinwand zu sehen, doch mehr ist da nicht. Seinem Joe Coughlin, seiner Darstellung fehlt das Leiden, die Trauer, die Last, die beispielsweise Tom Hardy in The Drop und Sean Penn in Mystic River hatten. Oder Casey Affleck in Ben Afflecks erster Lehane-Verfilmung Gone Baby Gone. Besonders schmerzlich wird dieses Fehlen, sobald Chris Cooper als Sheriff in die Handlung eingeführt wird, eine wahrlich tragische Figur, von einem wahrlich facettenreichen Schauspieler verkörpert.

Das führt zu einem weiteren Schwachpunkt dieses Films: Live by Night ist nicht nur ein Gangsterdrama, es ist auch eine Literaturverfilmung. Der Kriminalroman von Dennis Lehane ist grundsätzlich episch angelegt – und damit eine Adaption als Film und nicht als Miniserie gelingt, musste der Stoff komprimiert werden. Manche Entscheidungen wie der Kriegshintergrund schwächen die Figur, andere wie die Zusammenfassung von zwei Rollen in Zoe Saldanas Graciela erzeugen Widersprüche. Vor allem aber geht der Kern von Joe Coughlin verloren: Er ist ein typischer Lehane-Held, der bei allen Versuchen, ehrenhaft zu bleiben, weiß, dass er für seine Taten früher oder später bezahlen muss. Aber Afflecks Coughlin ist so betont als Held angelegt, dass man sich fragt, wie der Regisseur und Drehbuchautor Affleck übersehen konnte, dass ein Gangsterdrama immer auch einen Gangster braucht. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen Outlaw und Gangster kontraproduktiv: Der Gangster, so will es dieser Film suggerieren, mordet im Anzug, der Outlaw ist ein Räuber. Aber Coughlin mordet – und trägt dabei einen Anzug. Deshalb ist Joe Coughlin schlichtweg ein Gangster, der sich lediglich noch für eine Verbrecherorganisation entscheiden muss. Aber in seinem Bestreben, eine sympathische Hauptfigur zu schaffen, übersieht Affleck, dass der Mythos der Gangster dieser Zeit ausreichend Tragkraft gehabt hätte. Hier fehlt – wie in vielen Anspielungen auf die Bedeutung von Einwanderern und des Einflusses des Ku-Klux-Klans in den Südstaaten – die letzte Konsequenz.

Daher bleiben bei Live by Night letztlich vor allem einige gut choreografierte Actionszenen, gute Nebendarsteller und die Ernsthaftigkeit in Erinnerung, mit der Affleck dieses Gangsterdrama inszeniert hat. Außerdem zeigt dieser Film, dass grundsätzlich weiterhin möglich wäre, auch heutzutage noch Gangsterfilme zu drehen. Sofern man die Hauptfigur auch einen Gangster sein lässt …

Live by Night

Der Unterschied zwischen einem Outlaw und einem Gangster spielt in „Live by Night“ eine wesentliche Rolle. Gleich zu Beginn erklärt Joe Coughlin (Ben Affleck) aus dem Off, dass er nach seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg entschieden hat, keinerlei Befehlen mehr zu folgen. Er hat zu viele gute Männer aus den falschen Gründen sterben sehen, also will er nun das Leben genießen – bei Nacht frei und unabhängig sein, ein Outlaw sein.
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