La Pivellina

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die kleine Prinzessin und das fahrende Volk

Es ist ein vollkommen unerwartetes Glück auf Zeit, das der Schaustellerfamilie um Patrizia (Patrizia Gerardi) und ihren Mann Walter (Walter Saabel) widerfährt. Auf der Suche nach dem entlaufenen Hund der beiden findet die Frau vom Zirkus auf einer Schaukel ein einsames, gerade mal zwei Jahre altes Mädchen in einem rosa Anorak (Asia Crippa) – eben „la pivellina“ — die offensichtlich ausgesetzt wurde und die irgendwann, so steht in dem beiliegenden Brief zu lesen, wieder abgeholt werden wird. Obwohl Patrizia und Walter eine mehr als prekäre Existenz führen und ihr Leben als fahrendes Volk ständig am Rand des Ruins balanciert, nehmen sich die beiden in rührender Weise des entzückenden kleinen Mädchens an und versuchen ihr solange ein Zuhause zu geben, bis sich die ganze Angelegenheit aufgeklärt hat. Bald schon ist die kleine Prinzessin mit den strahlenden Augen und ihrer kindlichen Neugier der unumstrittene Mittelpunkt im Leben von Patrizia, Walter und all den anderen Schaustellern, mit denen sie zusammenleben. Dennoch schwebt stets eine dunkle Wolke über dem unvermuteten Glück, denn alle wissen ganz genau, dass die Kleine bald wieder weg sein wird. Und dabei ist es schon beinahe nebensächlich, ob es die Mutter sein wird oder die Polizei, die zuerst da sein werden.
Die Welt des Zirkus und der Schausteller hat es Tizza Covi und Rainer Frimmel offensichtlich sehr angetan; bereits vor einigen Jahren erkundeten sie mit ihrer Dokumentarfilm Babooska das Leben der Schausteller und Artisten. Nun widmen sie sich in ihrem Spielfilm abermals diesem Milieu und so ist es kein Wunder, dass die genaue Kenntnis des Lebens der Artisten und der dokumentarisch geschulte Blick auch diesen Film prägen, der in vielen Momenten kaum wie ein Spielfilm wirkt, sondern wie eine authentische Beschreibung der gefährdeten Existenzen, die im wahrsten Sinne des Wortes am Rande der Gesellschaft leben. Das spürt man beispielsweise deutlich, wenn Walter Angst vor der Polizei hat, die mutmaßen könnte, so seine Befürchtung, das Mädchen sei nicht vermisst, sondern von den Artisten entführt worden.

Dass dies Vorurteile sind, die den Realitäten nicht entsprechen, zeigt sich allein schon darin, dass gerade hier am so genannten „prekären“ Rand der Gesellschaft die (ganz normalen) menschlichen Regungen von Mitleid, Solidarität und Hilfsbereitschaft nach wie vor vorhanden sind und funktionieren. Durch die Laienschauspieler, die allesamt im wahren Leben tatsächlich als Artisten unterwegs sind und durch den ungeschminkten und häufig sehr tristen Blick auf die desolaten Lebensumstände fühlt man sich bei La Pivellina sowohl an den italienischen Neorealismus und an Federico Fellinis La strada als auch an die rauen und tristen Sozialstudien der Gebrüder Dardenne erinnert. Und doch ist La Pivellina kein bloßer Abklatsch der genannten Vorbilder, sondern ein in seiner Schlichtheit und Wahrhaftigkeit berührender Film, bei dem vor allem ein kleines Mädchen bezaubert, dessen Unschuld und Natürlichkeit am Ende beinahe so etwas wie Hoffnung aufkommen lässt. Sie ist das unbestrittene Zentrum dieses Films, der im letzten Jahr in Cannes in der Quinzaine des Réalisateurs bereits begeistert aufgenommen wurde und der auch 2010 auf der Berlinale zu sehen war. Zudem wurde das bewegende Alltagsmärchen auf zahlreichen Festivals mit etlichen Preisen ausgezeichnet, so etwa in Gijon, Leeds, Mumbai, Annecy und bei der Diagonale 2010, wo der Film den Großen Preis in der Kategorie Spielfilm erhielt. La Pivellina ist eine echte kleine Entdeckung mit großem Herzen.

La Pivellina

Es ist ein vollkommen unerwartetes Glück auf Zeit, das der Schaustellerfamilie um Patrizia (Patrizia Gerardi) und ihren Mann Walter (Walter Saabel) widerfährt. Auf der Suche nach dem entlaufenen Hund der beiden findet die Frau vom Zirkus auf einer Schaukel ein einsames, gerade mal zwei Jahre altes Mädchen in einem rosa Anorak (Asia Crippa) – eben „la pivellina“ — die offensichtlich ausgesetzt wurde und die irgendwann, so steht in dem beiliegenden Brief zu lesen, wieder abgeholt werden wird.
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