Kaum öffne ich die Augen (2015)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Die Stimme vor dem Sturm

Leyla Bouzid gibt mit Kaum öffne ich die Augen ihr Langfilmdebüt – und was für eines! Ihr Drama um eine Sängerin kurz vor dem arabischen Frühling in Tunesien strotzt nur so vor Vitalität, Aufbruchstimmung und schmerzhaften Erkenntnissen.

Prüfend blickt Farah (Baya Medhaffer) nach links und rechts, bevor sie Borhène (Montassar Ayari) im Schutz der Dunkelheit küsst. Eine sanfte Brise weht durch ihre kurzen Locken. Die Hände ertasten den Körper des Gegenüber. Dann fährt der in der Nähe stehende Ali (Aymen Omrani) dazwischen und die drei Freunde treten den Heimweg ihres nächtlichen Ausflugs an. Auch wenig später in einer Altstadtkneipe in Tunis berührt sich das junge Paar nur heimlich unter dem Tisch. Weder ihre Bandmitglieder noch die Öffentlichkeit soll oder darf etwas davon wissen. Ein befreundeter Poet fordert Farah zum Singen auf und schlagartig ist jede Schüchternheit verflogen. Die Musik verleiht ihr einen Mut, den sie sonst nur in geschützten Räumen zeigt. Nach und nach überträgt sich dieser von der Bühne aufs Leben.

Farahs Gesang ist eine Provokation. Alleine ihre Anwesenheit in dieser „Männerbar“, wie ein Beamter des Innenministeriums das Lokal später tituliert, bringt der 18-Jährigen argwöhnische Blick ein. Die Worte aus ihrem Mund vertreiben schließlich einige Gäste – ob aus Protest oder aus Angst vor Repressalien potenzieller Mithörer bleibt offen. Es ist Sommer 2010. Die Anspannung ist förmlich zu greifen. Farah singt darüber, was sie sieht, wenn sie in ihrem Heimatland die Augen öffnet: verschlossene Türen, beraubte Menschen, die durch ihre Schuhsohlen atmen, Flüchtlinge, die im Mittelmeer ihr Grab finden, und Paläste, die die Reichen auf den Schultern der Armen errichten. Über diesen Gesang wird sie später stolpern, jedoch nicht stürzen.

Kaum öffne ich die Augen erzählt die Geschichte starker Frauen. Die Männer sind wie Farahs Vater (Lassaad Jamoussi), der im 350 Kilometer entfernten Gafsa arbeitet, abwesend oder entpuppen sich wie Borhène und Ali aufgrund ihrer Doppelmoral als Enttäuschung. Wir lernen Farah, die gerade ihren Schulabschluss gemacht hat und von einem Studium der Musikwissenschaften träumt, als aufgeschlossen und freiheitsliebend kennen. Mögliche Konsequenzen wischt sie beiseite, was ihrer Mutter Hayet (Ghalia Benali) große Sorge bereitet. Die sähe die Tochter lieber als Ärztin und deutlich besonnener in ihren öffentlichen Äußerungen. Nach und nach und stets zwischen den Zeilen stellt sich heraus, dass Hayet ihrer Tochter ähnlicher ist, als diese annimmt. Auch die Mutter hat einst ihre Stimme erhoben, bis die Autoritäten ihr den Mund verboten. Heute geht sie leiser durchs Leben. Farahs Schwung bringt aber auch in Hayet wieder etwas zum Erklingen.

Leyla Bouzid kam über ihren Vater Nouri (Making Of – Kamikaze), einen der bekanntesten Regisseure und Drehbuchautoren Tunesiens, zum Film. Schon früh übernahm sie kleine Rollen in dessen Dramen, bevor sie in Paris erst Literatur, dann Regie studierte. Nach mehreren Kurzfilmen und einer Regieassistenz bei Abdellatif Kechiches Blau ist eine warme Farbe kehrt sie mit ihrem Langfilmdebüt in ihre Heimat zurück und erzählt eindrucksvoll von den Vorwehen der tunesischen Revolution.

Bouzid nähert sich ihren Figuren ganz zärtlich, lässt Sébastien Goepferts agile Kamera im natürlichen Licht dicht an sie heranrücken. In den Musikszenen weitet sich dieser enge Blick, öffnet durch sanfte Bewegungen den Raum, wie Farahs Texte den Horizont der Zuhörer erweitern. Kaum öffne ich die Augen stellt sich damit in eine Reihe Filme von No Land’s Song und Sonita über Rock the Kasbah bis Raving Iran, die die gleichermaßen umstürzlerische wie vereinende Kraft der Musik in der islamischen Welt dokumentieren. Das gesungene Wort scheint bei Bouzid noch mächtiger als das gesprochene, elektrisiert die Mischung aus traditionellen Instrumenten, verstärkten Gitarren und Sounds aus dem Computer doch die Zuhörer im Film und im Kinosaal.

All das macht Kaum öffne ich die Augen zu einem kraftvollen und vielschichtigen Porträt einer jungen, unzufriedenen Generation. Leyla Bouzid liefert die Probleme der Revolution gleich mit. Denn der Drang nach Selbstverwirklichung ist nicht bei allen gleich, offenbart besonders zwischen den Geschlechtern erhebliche Diskrepanzen, die tief in patriarchalen Strukturen wurzeln. Sexuelle Freizügigkeit nehmen die Männer dieses Films als emanzipatorische Errungenschaft gern in Kauf. Wenn dann jedoch die Eifersucht einsetzt, zeigt sich, wie einseitig diese Gleichberechtigung sein kann. Auch das muss Farah schmerzlich erkennen, bevor sie auch an ihrer Mutter statt ihr Lied zu Ende singt.
 

Kaum öffne ich die Augen (2015)

Leyla Bouzid gibt mit „Kaum öffne ich die Augen“ ihr Langfilmdebüt – und was für eines! Ihr Drama um eine Sängerin kurz vor dem arabischen Frühling in Tunesien strotzt nur so vor Vitalität, Aufbruchstimmung und schmerzhaften Erkenntnissen.

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