Ich, Daniel Blake (2016)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

In den Mühlen eines maroden Sozialsystems

Wer, wenn nicht Ken Loach, wäre besser dafür geeignet, in Cannes Akzente zu setzen, die dem Glamour an der Croisette diametral entgegengesetzt sind. Der große alte (und immer noch zornige) Mann des britischen Sozialdramas, von dem es bei Jimmy’s Hall, seinem letzten Auftritt an der Côte d’Azur schon hieß, er würde sich endgültig aus dem Filmgeschäft zurückziehen, kann es eben doch nicht lassen. Der Lohn für so viel Beharrlichkeit war dann auch beinahe folgerichtig die Goldene Palme für I, Daniel Blake.

Und schaut man sich an, was Loach zu sagen hat über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und des britischen Sozialsystems im Besondern, dann muss man schon froh sein, dass es diesen Mann und seine Weise des Filmemachens noch gibt. Denn viele von diesem ganz speziellen Schlag sind nicht mehr übrig geblieben. Im europäischen Kino fallen einem da vielleicht noch die Dardennes ein, sonst aber muss man schon lange nachdenken …

Den Titel des neuen Werkes von Loach muss man durchaus programmatisch sehen: I, Daniel Blake erzählt vom Versuch der Selbstversicherung und Selbstbehauptung gegen ein unmenschlich gewordenes bürokratisches System, ein beinahe schon kafkaesker Kampf gegen die Mühlen der britischen Sozial- und Arbeitslosen-Verwaltungsapparate, deren Beharren auf Prinzipien, Fristen und gesetzlich festgehaltenen Abfolgen sich von dem System anderer Länder kaum unterscheidet. Daniel Blake (Dave Johns) hat zeit seines Lebens als Schreiner geschuftet hat, musste vor kurzem seine Frau zu Grabe tragen und ist aufgrund eines Herzinfarktes nach Meinung seines Arztes nicht mehr arbeitsfähig. Das sehen die Sozialbehörde und das Jobcenter allerdings völlig anders. Und so gerät dieser wackere, einfache Mann in die unerbittlichen Mühlen der Armutsverwaltungsbürokratie, lernt dort eine allein erziehende junge Mutter (Hayley Squires) kennen, die sich in einer ähnlich misslichen Lage befindet wie er und mit der er für eine Weile so etwas wie eine Solidar- und Schicksalsgemeinschaft formt. Sie sind so etwas wie ein Hoffnungsschimmer und ein Fanal für ein behutsameres Umgehen miteinander, doch am Ende siegt – wie so oft – nicht die Humanität, sondern der kalte, berechnende und taxierende Verwaltungsapparat, der Menschen wie Katie und Daniel systematisch knechtet, entrechtet und entmenschlicht.

Es ist, so wurde im Vorfeld bereits milde bis scharf gespöttelt, mal wieder ein Wettbewerb der alten Männer in diesem Jahr an der Croisette. Vergleicht man aber den Eröffnungsfilm von Woody Allen (Jahrgang 1935) und das neue Werk von Ken Loach (1936), so wirkt letzterer um vieles relevanter, zorniger und frischer als das, was der New Yorker Regisseur hier zum Auftakt abgeliefert und womit er auch ziemlich enttäuscht hat – zumindest sofern man noch der Meinung war, dass Woody Allen mittlerweile nicht viel mehr ist als ein Schatten seiner selbst, der seit etlichen Jahren schon seine Filme mehr oder weniger lustlos herunterkurbelt.

Innovationen ästhetischer oder erzählerischer Natur sind zwar von Loach nicht mehr zu erwarten, zumal er seinen Stil bereits seit vielen Jahren verfestigt und vervollkommnet hat: Naturalismus der eher schmucklosen Sorte mit vornehmlich unbekannteren Darstellern, denen man ihre Herkunft aus der Unterschicht schon allein durch die Physiognomie ihrer vom Leben gezeichneten Gesichter bedingungslos abnimmt, dazu eine unaufgeregte, beinahe dokumentarisch anmutende Kamera, der langsame Schnittrhythmus, der Verzicht auf einen emotionalisierenden Score – all das kennt man seit vielen Jahren von Ken Loach und all das gibt es auch in I, Daniel Blake wieder reichlich zu sehen.

Wäre man unendlich zynisch und genauso abgebrüht wie all die Staatsbediensteten in Ken Loachs Film, die sich hinter all ihren Vorschriften verschanzen, dann könnte man Loach wohl vieles vorwerfen: Dass er letztendlich genauso stur, altbacken, uneinsichtig gegen all das Neue ist, das Aufregende, das Hippe, das das Kino seit einigen Jahren immer wieder hervorbringt. Man könnte ihn ähnlich wie diesen Daniel Blake als einen schlichten Charakter beschreiben, der nicht begriffen hat, dass sich die Zeichen der Zeit verändert haben. Andererseits ist es unendlich wichtig, dass sich Menschen wie Ken Loach und Daniel Blake nicht ändern, nicht anpassen, sondern dass sie sich selbst treu bleiben. Und gerade das verdient unseren ganzen Respekt.

Ich, Daniel Blake (2016)

Wer, wenn nicht Ken Loach, wäre besser dafür geeignet, in Cannes Akzente zu setzen, die dem Glamour an der Croisette diametral entgegengesetzt sind. Der große alte (und immer noch zornige) Mann des britischen Sozialdramas, von dem es bei „Jimmy’s Hall“, seinem letzten Auftritt an der Côte d’Azur schon hieß, er würde sich endgültig aus dem Filmgeschäft zurückziehen, kann es eben doch nicht lassen.

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Meinungen

Martin Zopick · 17.08.2023

Ken ist wirklich der Größte. Solange dieser kleine, sympathische Brite großartige Filme macht, gibt es Hoffnung, dass das Abendland kulturell nicht untergeht.
Wiederum schafft er es, ein brandaktuelles Thema solide recherchiert so umzusetzen, dass es emotional unter die Haut geht. Und sein Drehbuchautor John Laverty vergisst nie, die Situationen und Dialoge gelegentlich mit einem feinen Witz zu versehen.
Das großartige an den Ken Loach Filmen ist die geniale Mischung aus thematischer Ernsthaftigkeit und dem Mutterwitz der Betroffenen. Und er geht mit der Zeit. Arbeitslosigkeit ist ja kein neues Thema für ihn, nur jetzt sind wir im voll digitalisierten 21. Jahrhundert, abhängig von gefühllosen IT Systemen, die nur drei Ziffern kennen: Eins, Zwei und Null. Auch die Unpersönlichkeit der Entscheider als Vertreter des Staates wird hier echt kafkaesk ad absurdum geführt. Man muss sich einfach in ein unsichtbares Netz von sich teilweise widersprechenden Vorschriften verstricken. Dabei bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Dan (Dave Johns), der auch zur postdigitalen Generation gehört, kann keinen Computer bedienen und läuft ziellos hin und her zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Im Grunde versteht er gar nicht, was da um ihn herum passiert.
Ähnlich wie ihm ergeht es Katie (Hayley Squires), einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern. Für beide geht es auf der sozialen Leiter steil nach unten. Sie verdingt sich bei einem Escort Service und Dan will sie da rausholen. Katie verliert ihre Ehre als Frau, Dan sein Leben. Da hilft auch Nachbarschaftshilfe nicht. Echt tragisch und ausweglos. Ken bringt es auf den Punkt. Es liegt wohl am System. Das ist keine schöne neue Welt, sondern leider Realität. Erschütternd ehrlich. Da gibt es Tränen der Rührung und des Zorns.

Kim · 28.12.2016

Durchunddurch sehenswerter Film, der sehr traurig macht, wenn man der unteren oder mittleren Mittelschicht angehört.
Die Spielregeln sind so, dass du nicht gewinnen kannst, wenn du mal aus dem Spiel raus bist. In England und auch hier.
Sehr trauriger Film mit traurigem Ende, ähnlich wie "Ladybird, Ladybird".
You can´t win against the system.