Hunger

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der Körper als Waffe

Hunger, der Debütspielfilm des britischen Ausnahmekünstlers Steve McQueen (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Hollywood-Darsteller und Amateurrennfahrer) hat weltweit auf etlichen Festivals für großes Aufsehen gesorgt und wurde im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes mit der Camera d’Or als bestes Debüt ausgezeichnet. Trotz des bereits erfolgten DVD-Starts (Verleih) des Films und der baldigen Veröffentlichung der Kaufversion kommt das Werk nun in kleiner Kopienzahl in die deutschen Kinos – ein Glücksfall für unerschrockene Filmfans. Denn die brennende Intensität und hohe Kunstfertigkeit, mit der McQueen die Geschichte des IRA-Mitgliedes Bobby Sands erzählt, der 1981 nach 66 Tagen Hungerstreik starb, ist definitiv für die große Leinwand gemacht und einer der beeindruckendsten und niederschmetterndsten Filme der letzten Jahre.
Nordirland im Jahr 1981: Der erbarmungslose Krieg zwischen der britischen Besatzungsmacht und den Kämpfern der IRA wird auch in den Gefängnissen Nordirlands mit aller Verbissenheit und Härte weitergeführt. Im berüchtigten Hochsicherheitstrakt Maze Prison nahe Lisburn in Nordirland liefern sich die Insassen und die Wärter einen Kleinkrieg, bei dem Intimität, Scham, Gestank, ja selbst Kot und Urin zur Waffe werden. Seitdem im Jahre 1976 den gefangenen IRA-Kämpfern der Status als politische Gefangene bzw. Kriegsgefangene aberkannt worden ist, kommt es immer wieder zu Aktionen der Inhaftierten wie dem „Blanket Protest“ (gemeint ist damit die Weigerung, Gefängniskleidung zu tragen und sich stattdessen nackt in Decken zu hüllen) und dem „No Wash Protest“, bei dem die Gefangenen die normale Körperpflege vernachlässigen und bewusst verwahrlosen). Nach einem ersten massenhaften Hungerstreik im Jahre 1980, der mit vermeintlichen Zugeständnissen an die IRA-Kämpfer endet, die aber nicht eingehalten werden, entschließen sich die Insassen des berüchtigten H-Blocks von Maze im Frühjahr 1981 erneut zu einem Hungerstreik, der von Bobby Sands angeführt wird. Nach 66 Tagen ohne Nahrungsaufnahme stirbt Sands am 5. Mai 1981, nachdem er einen Monat zuvor bei Parlaments-Nachwahl im Bezirk Fermanagh und South Tyrone zum Unterhaus-Abgeordneten gewählt worden war. Im weiteren Verlauf des Hungerstreiks lassen noch 9 weitere Insassen von Maze ihr Leben, bevor die Aktion am 3. Oktober 1981 von der IRA offiziell abgebrochen wird. Seitdem ist Sands zu einer Leitfigur der IRA geworden, zu einem Märtyrer im Kampf für die Unabhängigkeit Nordirlands, der auch heute nach dem Ende des bewaffneten Kampfes nichts an seiner Wirkkraft verloren hat.

Steve McQueens Hunger ist nicht der erste Film, der sich dem Mythos Bobby Sands annähert. Bereits 1996 hatte Terry George unter dem Titel Mütter & Söhne / Some Mother’s Sons einen eindringlichen Film zu diesem Thema gedreht. Wobei es erstaunlich ist, wie vollkommen unterschiedlich zwei Filme zum gleichen Thema ausfallen können. Denn Steve McQueen, der als einer der bedeutendsten britischen Gegenwartskünstler gilt (unter anderem gewann er den Turner Prize, die höchste britische Auszeichnung für bildende Künstler und wird Großbritannien bei der Biennale 2009 in Venedig vertreten), verweigert sich der herkömmlichen Spielfilm-Dramaturgie, vermeidet jegliche moralische Bewertung und liefert stattdessen ein ebenso eindringliches wie poetisch-brutales und hyperrealistisches Essay der Ereignisse im Frühjahr 1981 ab, das verstört und sich unauslöschbar ins Gedächtnis einbrennt. Selten sah man sich der Spirale von Gewalt und Hass so schonungslos ausgeliefert, waren Gefangene und Wärter einander so ähnlich in ihrer Verstrickung und verbissenen Umklammerung, die Opfer und Täter vollends ununterscheidbar macht und alle Beteiligten bis zur Fratzenhaftigkeit und äußersten Obszönität entmenschlicht.

Steve McQueen hat seinen beeindruckenden Film, der stellenweise wie eine atemberaubende Neuinterpretation von Pier Paolo Pasolinis Salò oder die 120 Tage von Sodom wirkt, wie Triptychon des Grauens und der gemarterten Körper aufgebaut. Im ersten Teil des Films schildert er anhand verschiedener Personen die Zustände im Hochsicherheitstrakt von Maze Prison. Assoziativ wechselt der Film in der Erzählperspektive von dem Gefängniswärter Raymond Lohan (Stuart Graham) dessen Exekution den Schlusspunkt des ersten Teils bildet, zu den beiden Gefangenen Davey Gillen (Brian Milligen) und Gary Campbell (Liam McMahon), zeigt anschließend schmerzhafte brutale „Zwangswaschungen“ der Protestierenden und ebenso verstörende Aktionen der Gefangenen, die ihre Zellenwände mit Kunstwerken aus Kot verzieren und den Flur ihres Zellengangs mit einem Rinnsal aus Urin überschwemmen. Im Zentrum des Films steht eine mehr als 22-minütige Dialogsequenz, von denen mehr als 16 Minuten aus einer einzigen starren und ungeschnittenen Szene bestehen. Erst in dieser Sequenz verdichtet sich der zuvor lose Reigen der Erzählung auf eine eindeutige Hauptperson, rückt Bobby Sands (furios verkörpert von Michael Fassbender, der für diesen Film teilweise um mehr als 20 Kilo abmagerte) ins Zentrum der Narration. Bei seinem Gespräch mit dem katholischen Priester Pater Dominic Moran (Liam Cunningham) kündigt der spätere „Märtyrer der IRA“ den nahenden Beginn des Hungerstreiks an, ein Vorhaben, das Pater Moran verurteilt und für das er keinerlei Verständnis aufbringt. In dem Reigen von geschundenen Körpern und Gewalt, von Dreck und einem mit aller Verbissenheit geführten Kampf bildet diese distanziert gefilmte Szene so etwas wie das trügerische Auge des Sturms, ein vermeintlicher Ruhepol, in dem zum ersten und zum letzten Mal ein Austausch von Argumenten und Positionen stattfindet. Doch in Zeiten des Kampfes läuft die Kommunikation ins Leere, wird redundant, kryptisch, autistisch. Und folgerichtig wird es im letzten Teil des Filmes, in dem das langsame Sterben von Bobby Sands gezeigt wird, nahezu vollkommen still – es ist die Stille des Sterbens. Wenn die Worte versagt haben, bleibt einzig und allein der Tod.

Auch wenn der Nordirland-Konflikt heute weitgehend entschärft und aus dem bewaffneten Kampf ein politischer geworden ist (von Verirrungen wie einigen Anschlägen einer Gruppierung mit dem Namen The real IRA einmal abgesehen), fühlt man sich immer wieder auch an die Gegenwart erinnert, an die Foltergefängnisse von Abu Ghraib, an illegale CIA-Lager und an Guantanamo sowie an all die Stätten des Grauens und des Terrors, von deren Existenz wir allenfalls eine vage Vorstellung haben. Insofern ist Hunger nicht nur die höchst stilisierte Rekapitulation eines genau umrissenen historischen Ereignisses, das sich vor gar nicht allzu langer Zeit mitten in Europa zutrug. Der Film ist auch ein Essay über den Körper als Waffe, über Folter, Widerstand und Krieg, über die Bestie Mensch – jederzeit und überall auf der Welt. Und ein Kunstwerk von verstörender Schönheit, Poesie und entsetzlicher Grausamkeit.

Obwohl der Film derzeit auch auf DVD erscheint, wird er nun in Deutschland einen kleinen Kinostart in ausgesuchten Lichtspielhäusern erleben. Eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Denn die Bilder und Töne, die Steve McQueen für sein Spielfilmdebüt Hunger auf die Leinwand gemalt hat, sie brauchen den Raum des Kinos, die Größe der Leinwand, um ihre Wucht erst richtig entfalten zu können. Und dass man über diesen Film im Anschluss reden muss, um begreifen zu können, was man da eben gesehen hat, versteht sich von selbst.

Hunger

Hunger, der Debütspielfilm des britischen Ausnahmekünstlers Steve McQueen (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Hollywood-Darsteller und Amateurrennfahrer) hat weltweit auf etlichen Festivals für großes Aufsehen gesorgt und wurde im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes mit der Camera d’Or als bestes Debüt ausgezeichnet.
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Meinungen

Martin Zopick · 05.04.2012

Bei der Darstellung des erfolgreichen Hungerstreiks des IRA-Mannes Bobby Sands in den 80er Jahren geht der Film von Steve McQueen (der heißt wirklich so) weit über die Schmerzgrenze hinaus. Er verstärkt die Wirkung durch lange wortlose Einstellungen mit düsteren Bildern in drei sehr unterschiedlichen Teilen:
1. Entwürdigende Maßnahmen durch das Wachpersonal an den IRA Männern: Prügelorgien, echter Spießrutenlauf, Untersuchungen aller Körperöffnungen etc. Gut, dass es kein Geruchskino gibt. Ein Schocker beendet diesen Teil, der insgesamt ohne viele Worte durch äußerst brutale Aktionen beeindruckt.
2. Bei statischer Kamera ein längerer Dialog zwischen Bobby und einem Anstaltspfarrer. Hier hinterfragen beide Seiten geistreich und tiefgründig die Gegenseite und konfrontieren sie mit der eigene Position. Unter anderem ‘Ist Hungerstreik Mord oder Selbstmord?
3. Körperlicher Verfall des Hungernden, Qualen der Abmagerung (Michael Fassbender ist echt klapperdürr). Wortlos wird der langsame Sterbeprozess geschildert. Das ist nicht nur für den Schauspieler mit unheimlichen Schmerzen verbunden.
Man begreift die fanatische Verbohrtheit der Aktivisten und staunt über die Konsequenz ihres Handelns. Der erste und der letzte Teil beeindrucken durch realitätsnahe Brutalität und Grausamkeit des Sterbens, der Mittelteil dient der intellektuellen Aufarbeitung des Themas. Zusammengenommen ergibt das einen starken Film.