Familienfilm (2015)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Eine Runde Schach mit der Familie

Die Eltern sind endlich am Flughafen, die Kinder feiern bereits in Gedanken ihre wilden Hausfeten. Was zunächst wie ein typisches Coming-of-Age-Setting klingt, wird in Olmer Omerzus absolut ungewöhnlichem Langfilmdebüt schnell zu einer geradezu anthroposophischen Versuchsanordnung. Denn die Rollenbilder in dieser wohlhabenden tschechischen Familie aus der Oberklasse sind von vornherein höchst ungewöhnlich verteilt: Die libertär-jugendlichen Eltern Igor (Karel Roden) und Irena (Vanda Hybnerová) schippern da lieber mit ihrer Privatyacht in der Nähe der Weihnachtsinseln herum, anstatt sich zu Hause um den eigenen Nachwuchs zu kümmern – und tätscheln dafür umso mehr ihren Haushund Otto, im Grunde ihr Ersatzliebesobjekt, der natürlich mit in den Flieger muss, ob er will oder nicht.

Die streng-mütterlich wirkende Tochter Anna (Jenovéfa Boková), gerade einmal 19 Jahre alt, soll dagegen in der nächsten Zeit auf sich und vor allem ihren jüngeren Bruder Erik (überraschend wandelbar: Daniel Kadlec) aufpassen – und zugleich den Luxushaushalt bis zur Rückkehr ihrer Turteltauben-Eltern in Schwung halten. Den Rest regelt das Bankkonto, und per Skype-Verbindung sei man ja schließlich nicht aus der Welt, meint die gerne angetrunkene Mama salopp gegenüber ihren Sprösslingen. Hauptsache Freiheit, nichts weiter: Das alleine zählt aktuell für die beiden Erziehungsberechtigten. Kinder hin oder her: Es gibt ja schließlich nur ein (gemeinsames Liebes-)Leben.

Im nächsten Moment schon zieht Annas nymphomanisch veranlagte Busenfreundin Kristina (beileibe nicht nur eine visuelle Entdeckung: Eliska Krenková) in den neu konstituierten Familienhaushalt ein – und bumst alsbald mit dem verschlossenen Bruderherz Erik, der anfangs mit ihrer lasziven Hau-drauf-Art noch nicht viel anzufangen weiß. Aber egal: Man ist nur einmal jung – und die neue Mitbewohnerin geizt nun mal so gar nicht mit ihren äußerlichen Reizen. Jetzt heißt es erst mal: Baller- und Wichsspiele ade! Auch sonst bringt sich die „Neue“ rasch in die Teenager-Kommune ein: Mit grotesken Gesellschaftsspielen, die dem manischen Spielkind Rainer Werner Fassbinder sicherlich sofort gefallen hätten. Nackt-im-Aufzug-fahren heißt eines davon …

Wer hier im Grunde das Familienregiment führt, wird in den anschließenden Tagen, in denen die Eltern nicht nur räumlich umso ferner scheinen, zunehmend undeutlicher: Ständig wird gekifft und gefeiert, geballert und gegessen, geknutscht und gekuschelt. Neue Freunde erobern täglich das Prager Edel-Apartment – und alleine Igors ungeliebter Bruder Martin (mit starker Leinwandpräsenz: Martin Pechlát) schaut zwischendurch mal nach dem heimischen Status quo. Als sich schließlich der plötzlich gar nicht mehr so ruhige Sohnemann Erik entschließt, fortan die Schule zu schwänzen und kurz darauf volltrunken in der Notaufnahme landet, bricht parallel auch noch der Skype-Kontakt zu den Eltern ab: Ein Horrorszenario beginnt – für beide Seiten.

Den anschließenden, wiederholt positiven Handlungstwist darf man an dieser Stelle keineswegs verraten, genauso wenig wie die tragende Rolle des Haushunds. Denn der gebürtige Slowene Olmer Omerzu – Jahrgang 1984 und noch im ehemaligen Jugoslawien aufgewachsen – schüttelt in seinem fulminanten Spielfilmdebüt gleich eine Reihe überraschender Narrationsmuster souverän aus dem Ärmel. Zusammen mit Nebojša Pop-Tasić (Drehbuch) und Lukáš Milota (Bildgestaltung) nimmt Omerzu den Zuschauer in seinem abwechslungsreichen ersten Langfilm von Beginn an mit auf eine insgesamt wunderbar eigenständige, oftmals regelrecht verblüffende Familienrobinsonade, die in absolut kein erzählerisches Raster passt. Herausgekommen ist dabei ein sicherlich manieriertes, aber durchweg fein gesponnenes, lose zwischen Beobachtung und Assoziation schwebendes Familien-Triptychon.

Natürlich steckt in Omerzus bizarrem Familienexperiment in ästhetischer Hinsicht zugleich jede Menge Künstlichkeit und Formwillen, was aber die sehr differenten Handlungsarme im Grunde nur noch mehr verstärkt: Schließlich befindet man sich hier von vornherein in einer Art Laborversuch an lebenden Objekten namens (Familien-)Menschen. Dem FAMU-Absolventen, dessen mittellanger Film A Night Too Young 2012 bereits erfolgreich im Forum der Berlinale lief, ist nun mit seinem in der Tat bemerkenswerten Familienfilm, der seit Monaten von einem Filmfestival zum nächsten zieht, ein erstes Ausrufezeichen im traditionell starken (ost-)europäischen Autorenkino gelungen. Die internationale Produzentengilde sollte ihm alsbald neues filmisches Laborwerkzeug in die Hände geben: Denn hier war ein Meister am Werk.
 

Familienfilm (2015)

Die Eltern sind endlich am Flughafen, die Kinder feiern bereits in Gedanken ihre wilden Hausfeten. Was zunächst wie ein typisches Coming-of-Age-Setting klingt, wird in Olmer Omerzus absolut ungewöhnlichem Langfilmdebüt schnell zu einer geradezu anthroposophischen Versuchsanordnung.

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