Ein Kuss

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Eine machtvolle, labile Freundschaft

Wie nahe Ekstase und Tragik, Verlangen und Abscheu, Sehnsucht und Verletzung beieinanderliegen können, weiß niemand besser als ein junger Mensch. Denn die Jugendzeit ist sozusagen die Achillesferse der menschlichen Normalbiografie. Sie setzt Individuen mit schwachen Nerven einer Flut von Erkenntnissen und damit einer Dynamik aus, die aus dem Ruder laufen kann wie ein Drogentrip. Durchhalteparolen sind denn auch ein Teil der Botschaft dieses italienischen Schüler-Dramas von Regisseur Ivan Cotroneo. Aber das macht nichts, denn der Autor der Gay-Komödie Männer al dente versteht es hier zugleich, das Gefühlswirrwarr seiner drei 16-jährigen Protagonisten sehr authentisch zu schildern.
Die Waise Lorenzo (Rimau Grillo Ritzberger) ist in die Provinzstadt zu dem Ehepaar gezogen, das ihn gerade adoptiert hat. Der Junge ist schwul und bekommt das erste einschlägige Schimpfwort bereits an der Türschwelle des neuen Gymnasiums zu hören. Fröhlich und modebewusst geht er in auffälliger Montur und mit lackierten Fingernägeln in die Offensive. Dennoch trifft ihn das Mobbing hart, das ihm im Internet vonseiten seiner Mitschüler entgegenschlägt. Der Außenseiter freundet sich mit seiner Banknachbarin Blu (Valentina Romani) an, die von der Klasse ebenfalls geschnitten wird. Im vorigen Jahr hatte sie gleichzeitig Sex mit vier Jungen und nun gilt sie als Nutte, was sogar auf der Schulmauer geschrieben steht. Die beiden reißen außerdem einen dritten Schulkameraden aus seiner Isolation. Antonio (Leonardo Pazzagli) ist ein begnadeter Basketballspieler, aber sonst gilt er als schwer von Begriff. Darunter leidet der introvertierte Junge sehr. Mit seinen neuen Freunden aber blüht Antonio, der in Blu verschossen ist, auf. Die Drei genießen endlich ihre Jugend, so ähnlich wie Phil, Nicholas und Kat in dem deutschen Coming-of-Age-Film Die Mitte der Welt. Und sie schlagen die Mobber mit ihren eigenen Waffen. Aber dann verheddern sich in der Gruppe die Gefühle.

Mit den verschiedenen Jugendlichen gelingt es dem Film, exemplarisch die großen Themen, aber auch Krisen und Gefährdungen des Lebensalters aufzuzeigen. Es geht um den sozialen Status, die familiären Konflikte, die sexuelle Orientierung, die Ächtung von Homosexualität unter Schülern, sogar um eine Vergewaltigung. Interessanterweise bekommt gerade Lorenzo in seinem neuen Zuhause die besten und verständnisvollsten Eltern an die Seite gestellt. Aber der elterliche Einfluss schrumpft jetzt so oder so. Es ist nur noch bedingt möglich, den groß gewordenen Kindern in einer emotionalen Krise Halt zu geben.

Besonders Antonio entwickelt sich zur dramatischen Figur. Der Wortkargheit des beeindruckend gespielten Charakters setzt die Inszenierung konflikthafte Szenen mit dem Vater auf der Jagd entgegen. Und der verstorbene ältere Bruder teilt sich höchst lebendig das Zimmer mit Antonio, um ihm Ratschläge zu geben, als Vertrauter, aber auch als dubioser Einflüsterer. Vieles zerrt an diesem jungen Menschen, Ängste, Schuldgefühle, die er weder richtig orten noch entschärfen kann.

Auch Lorenzo und Blu bekommen originelle stilistische Unterstützung. Lorenzos Lebensfreude lässt manchmal bunte animierte Schmetterlinge und Schnörkel durchs Bild fliegen. Sein Wunsch nach Selbstinszenierung geht oft in Tagträume über und führt zu mitreißenden, videoclipähnlichen Tanzeinlagen und Performances. Lorenzo ist jedoch, gerade im Vergleich mit Antonio, zu oberflächlich auf Frohsinn getrimmt, als hätten die Jahre im Heim und bei Pflegeeltern keine Spuren hinterlassen.

Blu wird mit einer Erzählerstimme bedacht, die ihr aus großem zeitlichen Abstand die an sich selbst adressierten Briefe vorträgt. Diese Attitüde der erweiterten Perspektive wirkt jedoch störend pädagogisch, wie auch gelegentlich der wohlmeinende filmische Appell an Toleranz und Weitsicht. Aber trotz solcher Mankos überzeugt der Film, auch wegen seines überraschenden Schlusses. Eine Freundschaft kann, gerade in diesem Alter, wertvoller als die Liebe sein. Aber sie hat Grenzen.

Ein Kuss

Wie nahe Ekstase und Tragik, Verlangen und Abscheu, Sehnsucht und Verletzung beieinanderliegen können, weiß niemand besser als ein junger Mensch. Denn die Jugendzeit ist sozusagen die Achillesferse der menschlichen Normalbiografie. Sie setzt Individuen mit schwachen Nerven einer Flut von Erkenntnissen und damit einer Dynamik aus, die aus dem Ruder laufen kann wie ein Drogentrip.
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