Die Schlösser aus Sand

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Ein Haus voller Gefühle

Jetzt sind sie wieder da, in diesem Haus in der Bretagne, Éléonore und Samuel, die lange ein Paar waren. Und jetzt ist alles anders. Sie hat ihn verlassen. Und ihr Vater ist gestorben, es geht um den Verkauf des Hauses, um die Abwicklung der Vergangenheit. Er weiß, dass er am besten nicht mitgekommen wäre. Aber sie hat nun mal keinen Führerschein. Und er kann nicht nein sagen. Und irgendwer muss ja die Holzbohlen der Terrasse renovieren … Die Schlösser aus Sand zeigt unglaublich liebevoll, unglaublich genau, unglaublich schmerzhaft dieses eine Wochenende in diesem einen Haus, in dem dieses eine Paar, das keines mehr ist, noch einmal so etwas wie Zusammensein ausprobiert. Es ist Olivier Jahans zweiter Kinospielfilm, nach einer Pause von 15 Jahren.
Les chateaux de sable – die Schlösser aus Sand: In einer kleinen Szene, ganz beiläufig im Nebensatz, wird Georges Brassens erwähnt, der einen Chanson gleichen Namens geschrieben hat, der Gesang von einem kleinen Krieg der Kinder am Strand, die ihre Sandburg vor den anstürmenden Wellen retten wollen … Es kommt in Die Schlösser aus Sand auf diese kleinen Details an, die dem Film seinen Reichtum geben, seine, großes Wort, Welthaltigkeit: Allein schon die Blicke, die sich die Charaktere zuwerfen, die so viel erzählen, aber vielleicht auch nichts bedeuten … Das betrifft auch Samuels Doktorarbeit, er ist Geschichtsdozent und schreibt über Geli Raubal, Adolf Hitlers Nichte und sein Mündel, die sich 1931 erschoss. Vielleicht hat Hitler nach Gelis Tod all seine Menschlichkeit verloren, vielleicht ist sie unschuldig und doch verstrickt in alles, was danach kam? Samuel spricht abends von seinem Projekt, und natürlich spricht er, ohne es zu merken, von der unglücklichen und verhängnisvollen Liebe zwischen sich und Éléonore.

Das alles geschieht nur nebenbei; aber das Wunderbare ist, dass eigentlich alles in diesem Film ganz nebenbei geschieht, und dass wir teilhaben können, wie Éléonore und Samuel dieses Haus mit ihren Gefühlen füllen, mit alten Gefühlen und mit neuen, mit widersprüchlichen und mit ganz konkreten, vor allem mit Gefühlen, die sich in die Quere kommen. Zumal als drittes Element die Maklerin Claire dazukommt, die immer wieder neue Kaufinteressenten durchs Haus führt und die fast so etwas wie eine freundschaftliche Beziehung mit dem Pärchen aufnimmt; ein Pärchen, das ja aber nach wie vor keines mehr ist.

Claire wirkt als Katalysator, nein, mehr als das: Als Teilnehmerin bei dieser Reaktion zweier freier Radikaler, die hier wie im Reagenzexperiment aufeinander losgelassen werden. Einerseits ist Claire Dienstleisterin, andererseits fast eine neue Freundin, drittens aber auch eine, die immer wieder in kleinere Fettnäpfchen tritt und damit dem Lauf der Dinge einen ganz anderen Spin gibt. Und dann singt sie beim mittäglichen Crêpes-Essen ein Lied über Waisenkinder und hört nicht auf und hört nicht auf, und das überwältigt Éléonore, und Samuel legt seine Hand auf ihren Arm …

Éléonore ist in Trauer. Ihr Vater ist tot, das Haus ist das Haus, in dem sie viele Wochenenden mit Samuel verbracht hat. Samuel ist in Trauer, denn sie hatte ihn verlassen. Jetzt hat er eine neue Frau kennengelernt, sie ist einfacher, das Leben ist angenehmer, aber da ist eben Éléonore, hier mit ihm, in der Bretagne … Wir wissen genau, wie sie sich fühlen. Denn Olivier Jahan wendet ganz selbstverständlich literarische und theatralische Kunstgriffe an: Eine romanhafte Erzählstimme gibt uns in wohlgewählten Worten Einblicke in Seele, Charakter, Sehnsucht und Vergangenheit der Figuren; und immer wieder auch beginnen die Protagonisten selbst mit Monologen, um sich und ihre Welt zu erklären. Das wirkt nicht aufgesetzt, nicht als distanzierendes Mittel, nicht als störende Außenperspektive, sondern entwickelt sich ganz organisch, als könnte es nicht anders ein, aus dem Film, aus seinen Personen, aus seinen Bildern. So wie Vergangenes oder Gedanken oder Wünsche immer wieder durch kunstvolle Schwarz-Weiß-Fotografien geschildert und bebildert werden, Éléonore ist Fotografin, da ist das einerseits nur natürlich – andererseits sehen wir Éléonore selbst in diesen Bildern, die also doch nicht von ihr stammen.

So mischen sich subtil Außendarstellung und Innenwelt, so erweitert sich für den Zuschauer mehr und mehr das, was wir sehen, zu dem, was wir fühlen. So wie sich auch das Kreisen um das Haus im Lauf des Films verbreitert zu wundervollen Landschaftsaufnahmen, bei kleineren und größeren Ausflügen, bei Erinnerungen, die die Figuren durchwandern. Selten bekommt man in einem kleinen, bescheiden daherkommenden Film das Mit- und Ineinander von Außen und Innen so anschaulich und zugleich unaufdringlich erzählt. Eigentlich geht es die ganze Zeit um nichts; und das auf eine Art, die zeigt, dass dies das Wichtigste überhaupt ist. Schlösser aus Sand eben. Und wenn eines kaputtgeht, dann muss man ein neues bauen.

Die Schlösser aus Sand

Jetzt sind sie wieder da, in diesem Haus in der Bretagne, Éléonore und Samuel, die lange ein Paar waren. Und jetzt ist alles anders. Sie hat ihn verlassen. Und ihr Vater ist gestorben, es geht um den Verkauf des Hauses, um die Abwicklung der Vergangenheit. Er weiß, dass er am besten nicht mitgekommen wäre. Aber sie hat nun mal keinen Führerschein. Und er kann nicht nein sagen. Und irgendwer muss ja die Holzbohlen der Terrasse renovieren …
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