Die Hüter der Tundra

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Die Nöte einer samischen Rentierkolchose

„Weit weg vom Volk seid ihr Politiker, aber wir werden nicht verschwinden“. Mit diesem Sprechgesang endet ein Lied der Frauen auf dem Hirtenfest von Krasnotschelje. Das russische 500-Seelen-Dorf befindet sich tatsächlich weit entfernt von der Zivilisation, auf der Halbinsel Kola, nördlich des Polarkreises. Die Bewohner sind Samen, die ganz traditionell von der Rentierzucht leben. Aber die Region gerät zunehmend ins Visier internationaler Bergbaukonzerne, mit der Folge, dass die Rentiere ihre Weidegebiete verlieren und die 2000 Samen auf der Halbinsel um ihre Existenz fürchten.
Der Dokumentarfilm des deutschen Regisseurs René Harder (Herr Pilipenko und sein U-Boot) beobachtet die junge Politikerin Sascha Artiewa und ihre Familie in ihrem Alltag in Krasnotschelje. Sascha ist Abgeordnete des neu gegründeten samischen Parlaments, das in Murmansk den Forderungen der Ureinwohner Gehör verschaffen will. Die russische Regierung hat bislang versucht, die Existenz und die besonderen Interessen der Samen zu ignorieren. Sascha hofft, dass die Samen Land zugesprochen bekommen. Die Familie ihres Mannes Wowa Galkin wurde mit ihrer Rentierherde aus dem angestammten Gebiet vertrieben, als eine neue Mine gebaut wurde.

Die Hirten, die ihren Herden auf den Wanderungen durch die Tundra folgen, haben bislang kein Mitspracherecht, wenn die Regierung über eine andere Nutzung des Gebiets entscheidet. Das samische Parlament fordert die Ausweisung eines Nationalparks. Außerdem wird nach marktwirtschaftlichen Modellen für die Kolchose gesucht. Das alles erzählt Sascha, deren Voice-Over den Bildern die nötige Hintergrundinformation liefert. Sascha spricht in Murmansk mit einem interessierten Privatinvestor, und fährt in Begleitung ihres Mannes und der kleinen Tochter nach Norwegen. Dort berät sie sich mit einem Vertreter des örtlichen samischen Parlaments, der ihr Unterstützung zusichert. Das Wichtigste, hört sie von ihm, sei, die Öffentlichkeit überhaupt erst einmal auf die eigene Existenz aufmerksam zu machen. Das erzeuge Druck auf die Politik und die Wirtschaftskonzerne, mehr Rücksicht zu nehmen.

Die Lebensbedingungen in Saschas Dorf, das ein Hubschrauber mit den nötigsten Waren versorgt, sind schwer: Die Lebenserwartung liegt bei 45 Jahren für Männer und bei 53 Jahren für Frauen. Die Missstände aus jüngerer Zeit finden Eingang in die Spottlieder der Frauen – zum Beispiel, dass die regionale Klinik geschlossen wurde. Die jungen Männer des Dorfes finden keine Frauen – so auch Saschas Bruder Wladik Artiew. Harder verwendet Szenen aus Saschas Alltag und auch Wladiks Brautsuche als dramaturgischen Leitfaden, um eine personenbezogene, emotionale Spannung herzustellen.

Das Dorf mit seinen Holzhäusern und dem Ziehbrunnen wirkt wie ein idyllischer Punkt in der Wildnis. Von dort folgt die Kamera Wladik und den anderen Hirten auch hinaus in die Tundra. Es entstehen wunderbare Aufnahmen auf den waldumgrenzten Weiden, vor allem wenn die großen Rentierherden über sie hinweg galoppieren. Dann erklingt manchmal ein rhythmisch angepasster, traditioneller Gesang oder die Trommel eines Schamanen – unaufdringliche Hinweise auf die kulturellen Wurzeln der Samen. Auch die Aufnahmen in der winterlichen Schneelandschaft strahlen eine friedliche Kraft aus, die stark mit den Bildern aus Murmansk und vor allem auch aus den trostlosen Industriegebieten kontrastiert.

Harder, der in den 1990er Jahren in St. Petersburg Schauspiel und Regie studierte, beweist mit diesem Film, wie gut er sich in die Mentalität, die Sorgen und Hoffnungen dieser einfachen, bescheidenen Leute aus den Weiten der Tundra einfühlen kann. Ein wichtiger Film über eine bedrohte Naturregion und ihre Bewohner, die so optimistisch und unbeirrt für die Erhaltung ihrer traditionellen Lebensweise kämpfen.

Die Hüter der Tundra

„Weit weg vom Volk seid ihr Politiker, aber wir werden nicht verschwinden“. Mit diesem Sprechgesang endet ein Lied der Frauen auf dem Hirtenfest von Krasnotschelje. Das russische 500-Seelen-Dorf befindet sich tatsächlich weit entfernt von der Zivilisation, auf der Halbinsel Kola, nördlich des Polarkreises. Die Bewohner sind Samen, die ganz traditionell von der Rentierzucht leben.
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