Departure (2015)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Im Aufbruch

Am Anfang steht eine nächtliche Ankunft. Gleichwohl erzählt Departure (wie der Titel bereits erkennen lässt) vom Aufbruch: Es geht um ein Zuhause, das kein Zuhause mehr ist, um eine Vergangenheit, die in Kisten gepackt oder äußerst rabiat eliminiert wird, sowie um eine Zukunft, die der Protagonist im Geiste schon vor sich zu sehen glaubt – bis ihn die Geschehnisse dann doch ganz unvorbereitet und mit voller Wucht treffen.

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Andrew Steggalls Langfilmdebüt ist ein queeres Coming-of-Age-Drama, das unter anderem an André Téchinés Wilde Herzen (1994) und Paweł Pawlikowskis My Summer of Love (2004) erinnert. Nicht etwa, weil Steggall diese Werke nachahmen würde, sondern weil Departure eine wesentliche Qualität mit ihnen teilt: Der Film schildert eine Geschichte, die auf den ersten Blick als Ansammlung von Klischees erscheint, und er entwirft Figuren, die man zunächst als stereotyp abtun könnte – aber er schafft es ebenso wie die Arbeiten von Téchiné und Pawlikowski, dem Ganzen durch kleine Details und Beobachtungen sowie durch zarte Ironie und ein einfühlsames Schauspiel-Ensemble so viel emotionale Energie zu geben, dass er uns als Zuschauer_innen vom ersten bis zum letzten Bild in seinen Bann schlägt.

Der britische Teenager Elliot (Alex Lawther) ist mit seiner Mutter Beatrice (Juliet Stevenson) nach Südfrankreich gereist, um das Ferienhaus der Familie auszuräumen; es soll so schnell wie möglich verkauft werden. Als Elliot durch die spätsommerlich-frühherbstlichen Wälder der Provinz streift, wird er auf Clément (Phénix Brossard) aufmerksam, als dieser – verbotenerweise – ein Bad im Stausee nimmt. Der Jugendliche, der ein paar Jahre älter als Elliot ist, kommt aus Paris und verweilt derzeit bei seiner Tante im Dorf; später erfährt Elliot, dass Cléments Mutter an Krebs erkrankt ist und im Krankenhaus liegt. Bald ist Clément Elliot und Beatrice bei der häuslichen Entrümpelung behilflich – und es entwickelt sich eine spannungsreiche Dreiecksbeziehung, bis auch noch Elliots Vater Philip (Finbar Lynch) auftaucht.

Departure ist ein Film, der stark auf die Poesie der Dinge setzt: Teller, Tassen, Vasen und sonstige Gefäße in allen erdenklichen Farben und Formen, Schränke, Stühle, Tische, Spiegel, Lampen, Gemälde – all diese Dinge sind bei Steggall nicht nur Teil der Kulisse, sondern Teil der Erzählung sowie der Figuren. Mal sieht ein runder, heller Tisch wie ein Vollmond aus, mal geht das Hellblau der Innenwand in eine Unterwasser-Vision über. Zuweilen hat man das Gefühl, das gesamte Haus befinde sich auf dem Grund des Sees – und den Menschen darin gehe die Luft zum Atmen aus. Bei allem Gespür für die Ausstattung lässt der theatererfahrene Steggall nie das Interesse an seinem Personal vermissen. Elliot wird als Träumer gezeichnet – allerdings verklärt das von Steggall verfasste Drehbuch die musische Ader des Adoleszenten nicht. So trägt dieser zwar immer ein Notizbuch mit sich herum und erwähnt in Gesprächen Schriftsteller wie Marcel Proust oder Victor Hugo; wenn er aber gänzlich falsch – jedoch mit einer solchen Überzeugung, dass man ihm fast glauben möchte – die Lebensgeschichte von Hugo wiedergibt, wird deutlich, dass Elliot die Welt der Literatur in erster Linie nutzt, um einen Rahmen für seine eigenen Empfindungen zu schaffen. Wie es sich für einen 15-Jährigen gehört, ist er narzisstisch und in seinen Äußerungen stets ein bisschen prätentiös; der talentierte Alex Lawther (der schon als junger Alan Turing in The Imitation Game überzeugte) bringt dies wunderbar zum Ausdruck und verleiht dem juvenilen Mann, der vornehmlich in einer verschlissenen, königsblauen Gardisten-Jacke umherläuft, etwas, was man vielleicht am besten als ‚artifizielle Wahrhaftigkeit‘ beschreiben kann: In jeder Pose steckt (mindestens) ein Funken Ehrlichkeit und in jeder Wahrheit ein wenig Manieriertheit. Ein großartiges Beispiel hierfür ist der dramatische Griff in die Brennnesseln, kurz nachdem Elliot einen ersten Versuch unternommen hat, Clément seine Gefühle zu gestehen.

Juliet Stevenson steht dem in ihrer Mutterrolle in nichts nach; auch sie vermag Theatralik und aufrichtige Melancholie gekonnt zu kombinieren. Phénix Brossard erweist sich indes als echte Entdeckung; er spielt Clément als Mischung aus dem jungen, wilden Marlon Brando und dem enigmatischen Gast aus Pier Paolo Pasolinis Teorema – Geometrie der Liebe. Wir kommen diesen Figuren – so anstrengend und ichbezogen sie sich auch verhalten – sehr nahe; wenn das Herbstlaub plötzlich in Elliots Zimmer von der Decke fällt, überrascht uns dies ebenso wenig wie den Protagonisten selbst. Wir sind mit diesen Menschen in diesem Kosmos, in dem es nur eine einzige Wahrheit – nämlich die der Emotion – gibt.
 

Departure (2015)

Am Anfang steht eine nächtliche Ankunft. Gleichwohl erzählt „Departure“ (wie der Titel bereits erkennen lässt) vom Aufbruch: Es geht um ein Zuhause, das kein Zuhause mehr ist, um eine Vergangenheit, die in Kisten gepackt oder äußerst rabiat eliminiert wird, sowie um eine Zukunft, die der Protagonist im Geiste schon vor sich zu sehen glaubt – bis ihn die Geschehnisse dann doch ganz unvorbereitet und mit voller Wucht treffen.

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