Das Ende ist erst der Anfang

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wie apokalyptische Reiter ohne Pferd

Bleigrau und regenschwer hängen die Wolken über der unwirtlich grauen Landschaft, in der Bouli Lanners seinen überwiegend von Endzeitdüsternis geprägten Film Das Ende ist erst der Anfang (im Original heißt der Film etwas treffender Les premiers, les derniers, was natürlich auf die Bergpredigt anspielt) angesiedelt hat. Zwischendrin zieht sich ein erhöhtes Betonband durch die topfebene Landschaft; es mutet zunächst an wie eine moderne Version eines antik-römischen Viaduktes, in Wahrheit ist es eine viel neuere zivilisatorische Hinterlassenschaft: Von hier aus sollte der „Aerotrain“, ein Prestigeprojekt der damaligen französischen Regierung unter Giscard d’Estaing, seinen Siegeszug in die Welt antreten – doch Mitte der 1970er Jahre wurde das Konzept des spurgeführten Luftkissenfahrzeugs ohne den gewünschten Erfolg beendet.
Zu Beginn von Bouli Lanners Hybrid aus europäischem Neo-Western, melancholischem Roadmovie und mit Thrillerelementen angereichertem Arthouse-Drama dient die einstige Hochgeschwindigkeitstrasse den beiden Ausreißern Willy (David Murgia) und Esther (Aurore Broutin) als Wegstrecke für ihre Wanderschaft ins Ungewisse. Die beiden Liebenden, die allem Anschein nach aus einer psychiatrischen Anstalt entwischt sind, befinden sich auf der Suche nach Esthers Tochter, die bei einer Pflegefamilie lebt und die die psychisch überaus fragile Frau noch einmal sehen will, denn sie ist überzeugt davon – das hat sie irgendwo aufgeschnappt –, dass der Untergang der Welt unmittelbar bevorsteht. Um an Essen und Geld für die Reise zu kommen, begehen sie kleine Einbrüche in Hotels und Pensionen, und bei einem dieser Beutezüge ist ihnen ein brisantes Stück in die Hände gefallen: das Handy eines Gangsterbosses, auf dem sich unter anderem ein Videoclip eines brutalen Mordes findet – wovon Esther und Willy aber freilich nichts ahnen. Daraufhin werden die beiden Kleinganoven Cochise (Albert Dupontel) und Gilou (Bouli Lanners) losgeschickt, die das Handy orten und das Beweisstück wieder zu seinem Besitzer zurückbringen sollen. Die beiden Freunde, die wirken, als wären sie in Wahrheit Rocker, denen ihre schweren Maschinen unter dem Hintern abhandengekommen sind, sind zwar nicht wirklich motiviert und vor allem Gilou scheint sehr mit seinen eigenen Problemen (das Herz!) beschäftigt, aber Job ist halt Job. Und so kreuzen sich die Wege des einen Paares (Esther und Willy) mit dem des anderen (Cochise und Gilou) – und dann kommen noch ein prächtiger Hirsch, ein Typ namens Jesus (inklusive Wundmal an der Hand), schießwütige Gauner, ein mumifizierter Leichnam, zwei steinalte Herrschaften (Michael Lonsdale und Max von Sydow) sowie eine schöne Frau dazu.

Die Vergleiche zu den Filmen von Quentin Tarantino und den Coens sind zwar einigermaßen gerechtfertigt, führen aber allesamt auf eine Spur, an deren Ende nur Enttäuschung stehen kann. Denn Bouli Lanners ist trotz aller Thrillerelemente kein Freund zwingender Spannungsbögen, zynischer Wesensarten und ausufernder Gewaltdarstellung. Vielmehr liebt der belgische Filmemacher spürbar seine Protagonisten, gibt ihnen Zeit, um deren Freundschaft und Liebe zueinander – das betrifft nicht nur Willy und Esther, sondern auch die beiden eigentlich herzensguten Kopfgeldjäger Cochise und Gilou – immer wieder ins Bild zu rücken. Geschickt hält Lanners die Balance zwischen apokalyptischer Düsternis und dem hellen Licht der Liebe, das wie ein hoffnungsvoller Sonnenstrahl immer wieder das Grau der Wolken für einen kurzen Moment beiseiteschiebt und so bei aller Tristesse sogar ein überwiegend positives Ende für seine Figuren bereithält.


Sucht man nach einem Geistesverwandten, der Lanners nähersteht als die zuvor Genannten, kommt einem unwillkürlich der französische Regiexzentriker Bruno Dumont (Twentynine Palms, Hors Satan, P’tit Quinquin/ KindKind, Camille Claudel 1915, Die feine Gesellschaft) in den Sinn: Lanners ähnelt diesem mit seiner Leidenschaft für verschrobene Charaktere und seiner Liebe zu den wolkenverhangenen und eigentlich potthässlichen Ebenen Belgiens und Nordfrankreichs, aus denen beide in den vergangenen Jahren einen filmischen Ort geschaffen haben, der als Äquivalent zu den Weiten der amerikanischen Prärien den idealen Schauplatz für menschlichen Dramen und Tragikomödien voller Skurrilitäten bildet. Und mit seinem nunmehr vierten Spielfilm als Regisseur (nach Ultranova, Eldorado und Les géants) hat sich Bouli Lanners fest als eine der unverwechselbaren Stimmen des europäischen Kinos etabliert und seinen ganz eigenen Stil gefunden.

Das Ende ist erst der Anfang

Bleigrau und regenschwer hängen die Wolken über der unwirtlich grauen Landschaft, in der Bouli Lanners seinen überwiegend von Endzeitdüsternis geprägten Film „Das Ende ist erst der Anfang“ (im Original heißt der Film etwas treffender „Les premiers, les derniers“, was natürlich auf die Bergpredigt anspielt) angesiedelt hat.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen