Complete Unknown

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Im ständigen Wandel

Man kann schwerlich behaupten, dass der Film Complete Unknown eine Enttäuschung ist. Er enttäuscht aber unentwegt Erwartungen. Das beginnt bereits beim Regisseur: Der in Kalifornien geborene Joshua Marston hat mit seinen Festivalerfolgen Maria voll der Gnade (2004) und The Forgiveness of Blood (2011) zwei realistisch geschilderte, mit unbekannten Gesichtern besetzte Milieustudien vorgelegt, in denen er sich mit lebensbedrohlichen Krisen junger Menschen beschäftigte. In Complete Unknown – seinem dritten Langfilm – arbeitet er hingegen mit großen Namen wie Michael Shannon, Rachel Weisz, Kathy Bates und Danny Glover zusammen und widmet sich einer Gruppe von gut situierten Erwachsenen, deren Krisen man sich (überspitzt formuliert) überhaupt erst einmal „leisten“ können muss. Doch auch der Star-Cast und die Prämisse des Drehbuchs, das Marston gemeinsam mit Julian Sheppard geschrieben hat, wecken Erwartungen, die nicht erfüllt werden.
Michael Shannon spielt einen Mann namens Tom, der von seinem monotonen Job in New York gelangweilt ist und vor der Entscheidung steht, ob er seine Gattin Ramina (Azita Ghanizada) nach Kalifornien begleiten soll, wo diese ihre Fähigkeiten als Schmuckdesignerin ausbauen möchte. Auf seiner Geburtstagsfeier taucht sein Freund und Kollege Clyde (Michael Chernus) mit einer neuen Bekanntschaft auf: Die attraktive Alice (Rachel Weisz) gewinnt mit ihren Erzählungen über ihre Erfahrungen als umherreisende Forschungsassistentin rasch die Sympathien aller Gäste – nur Tom ist extrem irritiert. Denn er kennt die Frau, die einstmals Jennifer hieß, und führte sogar eine feste Beziehung mit ihr, ehe sie vor 15 Jahren spurlos verschwand.

In der Exposition von Complete Unknown fassen Marston und sein Kameramann Christos Voudouris den Lebenswandel von Weisz‘ Figur in effektvolle, furios montierte Bilder. Wir sehen die Frau mit den vielen Namen an diversen Schauplätzen sowie in unterschiedlicher Aufmachung und Funktion, etwa als hippieeske Studentin, Krankenschwester oder Gehilfin bei einer Zaubershow in China. Die Rolle ist zunächst ein Enigma – und ihre plötzliche, durchaus hinterlistig in die Wege geleitete Rückkehr in Toms Leben (bei welcher von Anfang an klar ist, dass sie nicht rein zufällig geschieht) lässt die Vermutung hegen, dass es sich bei Jennifer um eine Femme fatale mit verhängnisvoller Agenda handelt. Dass Marstons Werk dieses Genre-Terrain meidet, ist nicht per se schlecht; dies könnte gar zu einer interessanten Untergrabung dramaturgischer Konventionen führen. Das Drehbuch-Duo wählt allerdings eine ausgesprochen „unfilmische“ Methode, um mit dem eingangs gezeigten Identitätsrätsel umzugehen: Es lässt die weibliche Hauptfigur in aller Ausführlichkeit reden und erklären, bis die vergangenen 15 Lebensjahre der chamäleonartigen Frau nahezu vollständig ausbuchstabiert sind. Dabei bleibt deren Darlegung wiederum derart unspezifisch, dass Jennifer einem als Person dennoch nicht wirklich nahekommt.

Als Kameramann für Richard Linklaters Before Midnight hat Voudouris demonstriert, dass Filme, in denen dem gesprochenen Wort ein hohes Gewicht zukommt, durchaus sehr kinotauglich sein können – und auch Complete Unknown ist optisch bis zur finalen Einstellung ein Hochgenuss. Gleichwohl kann die exzellente Ästhetik die Tatsache nicht verbergen, dass das Gesagte hier – im Gegensatz zu den Jesse-und-Celine-Dialogen in Before Midnight oder dem verbalen Duell, das sich Eli Wallach und Cloris Leachman in Marstons Beitrag zum Episodenfilm New York, I Love You liefern – mehr und mehr an Spannung verliert und kaum Originelles zu bieten hat. Clever ist indes, dass Complete Unknown Jennifers Verhalten kinematografisch nachvollzieht, indem der Film sich innerhalb seiner Laufzeit von 90 Minuten ebenfalls mehrmals wandelt: So geht etwa der temporeiche Auftakt in eine Dinner-Party-Passage über, die an ein Theaterstück gemahnt, und später wird ein hipper Nachtclub als Szenerie von der kleinen Wohnung eines älteren Ehepaars (Kathy Bates und Danny Glover) abgelöst, in welcher das Thema des Identitätswechsels in Form eines absurden Sketchs behandelt wird. Alles in allem ist Marstons neuste Schöpfung daher nicht vollauf überzeugend, aber auch nicht ohne Reiz.

Complete Unknown

Man kann schwerlich behaupten, dass der Film „Complete Unknown“ eine Enttäuschung ist. Er enttäuscht aber unentwegt Erwartungen. Das beginnt bereits beim Regisseur: Der in Kalifornien geborene Joshua Marston hat mit seinen Festivalerfolgen „Maria voll der Gnade“ (2004) und „The Forgiveness of Blood“ (2011) zwei realistisch geschilderte, mit unbekannten Gesichtern besetzte Milieustudien vorgelegt, in denen er sich mit lebensbedrohlichen Krisen junger Menschen beschäftigte.
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