Certain Women

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Differenzierte Betrachtungen

Kelly Reichardt ist eine Meisterin des Minimalismus: Seit ihrem Debüt River of Grass (1994) hat sie eine Reihe von Kurz- und Langfilmen realisiert, die sich durch eine ruhige Erzählweise und subtile Vermittlung von Gefühlen und Konflikten auszeichnen. In Michelle Williams hat sie eine Schauspielerin gefunden, die den Nuancenreichtum ihrer Werke mimisch und gestisch perfekt umzusetzen vermag. Nach Wendy and Lucy (2008) und Auf dem Weg nach Oregon (2010) arbeiten die beiden in Certain Women zum dritten Mal miteinander.
Das von Reichardt verfasste Drehbuch basiert auf drei Kurzgeschichten der aus Montana stammenden Schriftstellerin Maile Meloy. Der Heimatbundesstaat der Autorin ist die Hauptverbindungslinie zwischen den Geschehnissen, die sich in Certain Women entfalten. Im Zentrum der ersten Geschichte steht die Anwältin Laura (Laura Dern), die allein mit ihrem Hund lebt und sich bemüht, ihre in den Mittagspausen stattfindende Affäre mit dem verheirateten Ryan (James LeGros) geheim zu halten. Sie wird mit einem aufdringlichen Mandanten (Jared Harris) konfrontiert, der sich von seinem ehemaligen Arbeitgeber ungerecht behandelt fühlt – und schließlich zu drastischen Mitteln greift. Der zweite Abschnitt gewährt Einblick in Ryans Ehe: Mit seiner Frau Gina (Michelle Williams) und der gemeinsamen Tochter Guthrie (Sara Rodier) macht Ryan einen Campingausflug und sucht den älteren Bekannten Albert (Rene Auberjonois) auf, dem das Paar einen Bestand an Sandsteinen abkaufen möchte, um diese für den geplanten Hausbau zu nutzen. Die dritte Episode befasst sich mit der jungen Jamie (Lily Gladstone), die den Native Americans angehört und eine Ranch betreibt. Als sie durch Zufall in einem von der Juristin Beth (Kristen Stewart) geleiteten Abendkurs landet, entwickelt sie eine starke Zuneigung zu der Berufsanfängerin, die mit den Bedingungen ihrer Tätigkeit extrem unzufrieden ist.

Alle drei Segmente leben sowohl von etlichen kleinen Momenten als auch von tiefen Erschütterungen (mit Potenzial zum großen Melodram), die von Reichardt und ihrem durchweg fabelhaften Ensemble jedoch nie ausgebeutet werden. Frustration am Arbeitsplatz und im Privatleben, die Gefahr, die von einer verzweifelten Person ausgehen kann, und die Überwältigung einer unerklärlichen Faszination für einen weitgehend fremden Menschen – all diese (und weitere) Themen werden in Blick- und Wortwechseln differenziert zur Anschauung gebracht. Immer wieder lassen sich Parallelen zwischen den Geschichten herstellen, insbesondere in der Art und Weise, wie zwischenmenschliche Beziehungen zu irritierend-sonderbaren Augenblicken führen. Zu den reizvollsten Aspekten von Reichardts Schaffen zählt seit jeher die Auseinandersetzung mit Genderfragen: Ohne ihre Protagonistinnen zu Opfern zu machen, zeigt die Regisseurin, Drehbuchautorin und Cutterin auch in Certain Women winzige bis gravierende Verletzungen auf, die ihre weiblichen Figuren erfahren müssen – etwa die Anzweiflung ihrer beruflichen Kompetenz. Im direkten Vergleich zu Reichardts früheren Werken fallen die ersten beiden Episoden in der Zeichnung des Milieus sowie der Erzeugung von Atmosphäre leicht zurück, der finale Teil gehört hingegen zum Besten, was Reichardt bisher hervorgebracht hat: Die Routine, die das Dasein von Jamie bestimmt, sowie die unerwartete Belebung, die durch die anziehende Wirkung von Beth entsteht, werden ebenso präzise eingefangen wie Beths suboptimale Jobsituation.

Abermals bereitet Reichardt der Schauspielkunst eine Bühne. Laura Dern lässt den Druck erkennen, der auf ihrer Figur lastet (dafür braucht sie in einer Sequenz beispielsweise nur einen Fusselroller!); ihre Interaktion mit Jared Harris ist superb, da das Verhältnis zwischen der Anwältin und dem Mandanten nicht so eindeutig ist, wie man zunächst vermuten könnte. Michelle Williams demonstriert indes in einer Gesprächspassage zwischen Gina, Ryan und Albert, wie man mit einem einzigen Gesichtsausdruck all das transportieren kann, wofür manche Ehedramen ein 90-seitiges Skript benötigen. Und Lily Gladstone sowie Kristen Stewart liefern derart unverstellte Performances, dass die nach außen hin völlig ereignislosen Begegnungen zwischen Jamie und Beth eine einzigartige emotionale Spannung zutage fördern. Ein sehr kluger, aufrichtiger Film!

Certain Women

Kelly Reichardt ist eine Meisterin des Minimalismus: Seit ihrem Debüt „River of Grass“ (1994) hat sie eine Reihe von Kurz- und Langfilmen realisiert, die sich durch eine ruhige Erzählweise und subtile Vermittlung von Gefühlen und Konflikten auszeichnen. In Michelle Williams hat sie eine Schauspielerin gefunden, die den Nuancenreichtum ihrer Werke mimisch und gestisch perfekt umzusetzen vermag.
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Meinungen

K. Fuehrig · 18.04.2017

Spot auf verschiedene Lebenssituationen und -umstände jenseits der amerikanischen Großstadt; Unaufgeregtes, authentisches Kino, das mitnimmt und Raum für eigene Auslegungen lässt.
.. Hab's genossen