Boyhood

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Ein Spielfilm als Langzeitbeobachtung mit ungewissem Ausgang

Dieses Projekt ambitioniert zu nennen, ist eine Untertreibung. Zwölf Jahre lang hat Richard Linklater an Boyhood gearbeitet. Jedes Jahr trafen sich die vier Protagonisten, um ein weiteres Stück dieses Filmes zu drehen und somit eine wahrhaft authentische Coming-of-Age Geschichte zu erzählen. Mason (Ellar Coltrane) ist sechs Jahre alt, als er das erste Mal auf der Leinwand erscheint. Seine Schwester Sam (gespielt von Linklaters Tocher Lorelei) ist zwei Jahre älter und die beiden leben bei ihrer alleinerziehenden Mutter Olivia (Patricia Arquette), die über die Jahre nicht nur einen absolut schlechten Männergeschmack beweist, sondern auch viel Liebe und Geduld und einen herrlichen Humor. Sie ist die stille Basis dieser Familie und gleichsam ein Hort des Chaos, der Umzüge und üblen Liebesgeschichten. Mason Senior (Ethan Hawke) ist wohl ihr erster großer Fehler — der Vater von Sam und Mason ist selbst mehr Kind als Mann, obwohl sich auch das über die Jahre ändert.
Der fast dreistündige Film begibt sich auf eine ruhige Reise durch Masons Kindheit und Adoleszenz und beobachtet seine Verwandlung von einem kleinen Jungen bis hin zu seinem ersten Tag am College. Dabei gibt es über die eigentliche Handlung gar nicht so viel zu berichten, zum großen Teil besteht sie aus kleinen und großen Beobachtungen, Geschichten und Meilensteinen im Leben ihrer Protagonisten — also im Endeffekt eine Beobachtung des Lebens. Oder wie John Lennon einmal so treffend sagte: „Life is what happens to you while you’re busy making other plans.“ Linklater hat eindeutig verstanden, dass ein solches Projekt nicht streng durchterminiert werden kann und so erstickt er den Film nicht in einem engen Korsett, sondern lässt ihn entstehen. Mal traurig, mal lustig, meist ein wenig chaotisch und unberechenbar setzt sich diese Langzeiterzählung Stück für Stück fort. Dabei entstehen nicht nur wunderbare Momente, sondern auch eine tiefe und enge Bindung an die Protagonisten, denen man schon sehr bald mit so viel Empathie und ehrlichem Interesse folgt wie sonst wenigen. Wieso? Weil Linklater hier das Leben zeigt, wie es für viele von uns nachvollziehbar ist, mit eindeutigen Parallelen und ganz ähnlichen Situationen zu unserem eigenen. Und dabei verfällt der Film nicht in Pathos, Allgemeinplätze und Schönrederei. Das wäre auch fatal.

Was Boyhood durch seine ungewöhnliche Machart schafft, ist ein unglaublich kohärentes und völlig authentisches historisches Bild der letzten zwölf Jahre zu zeichnen. Dieses zerfällt mal in politische und mal in kulturelle Momente: so erklärt der Vater seinen Kindern was so schlimm ist am Irakkrieg und an Bush, um Jahre später mit ihnen beim Wahlkampf für Obama mitzuhelfen. Die kulturelle Entwicklung markiert Linklater hier geschickt vor allem durch Musik. Eine wunderbare und absolut perfekt funktionierende Idee, denn nichts trägt einen besser durch die Geschichte, als die jeweiligen Hits des Jahres. So beginnt der Soundtrack dieses Lebensabschnittes mit Sam, die Britney Spears „Oops, I dit it again“ zum Besten gibt, geht über Coldplay bishin zu Daft Punks 2013er Sommerhit „Get Lucky“. Diese Songs, ein zumindest im westlichen Kulturkreis gemeinsam geteiltes kulturelles Erbe, vertiefen das Gefühl von Geschichtlichkeit und Zugehörigkeit — es ist unmöglich nicht ab und zu an Momente aus dem eigenen Leben zu denken, die ebenfalls an diese Lieder gekoppelt sind.

Es lohnt sich, auch einen weiteren Gedanken an die Frage der Bedeutung dieser „Boyhood“ zu verschwenden. Denn über die Jahre werden Mason nicht nur von verschiedenen Bezugspersonen Ratschläge erteilt, die ihm erklären sollen, was es bedeutet ein Mann zu sein und wie man sich da verhalten muss. Nein, diese werden auch immer wieder konterkariert mit männlichen Bezugsfiguren, die ihre eigenen klugen Ratschläge nicht einhalten und im Endeffekt selbst nicht wissen was es denn bedeutet ein Mann zu sein. Muss man dafür seine Familie dominieren? Alle Rechnungen zahlen? Ein eigenes Haus haben? Oder cool sein, in einer Band spielen, einen Oldtimer fahren? Wie wird man ein Mann und wie bleibt man ein Mann? Der Film gibt keine Antwort — denn im Endeffekt gibt es keine. Aber er demontiert auch nicht einfach die Versuche, sich als männlich zu identifizieren und zurecht zu finden. Masons eigene Intelligenz und Feinfühligkeit helfen hier weiter. Er hinterfragt, er trotzt, er versucht seinen Platz zu finden in einer Welt, die immer komplizierter wird und immer weniger Sinn ergibt.

Linklater umschifft alle Klippen, an denen sein Projekt aller Ambitionen zum Trotz hätte scheitern können. Das Ergebnis ist ein Film, den man entweder einfach genießen kann oder mit dem man sich noch Tage später beschäftigt —  einfach, weil er sich so wunderbar mit dem eigenen Leben verbinden lässt und einen in höchstem Maße zur Kontemplation anregt.

Boyhood

Dieses Projekt ambitioniert zu nennen, ist eine Untertreibung. Zwölf Jahre lang hat Richard Linklater an „Boyhood“ gearbeitet. Jedes Jahr trafen sich die vier Protagonisten, um ein weiteres Stück dieses Filmes zu drehen und somit eine wahrhaft authentische Coming-of-Age Geschichte zu erzählen.
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Meinungen

kim · 25.12.2014

Nach Boyhood kommt jetzt Girlhood. Da hüpft mein femistisches Herz!

Bernd · 09.07.2014

Ich muss sagen man hätte es nicht besser darstellen können! Wirklich. Ich habe den Film gesehen und genossen es war fantastisch und wunderschön! Super Film unbedingt anschauen. Sehr mitreisend und eindrücklich!