Allein in vier Wänden

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Endstation Kindergefängnis

Bei dem hier vorgestellten Modell eines Jugendknastes in Tscheljabinsk würden sich manche politischen Hardliner die Hände reiben, gäbe es Vergleichbares in Deutschland. Zwischen 11 und 16 Jahre alt sind die 120 Kinder, die hier mitten im Ural-Gebirge „umerzogen“ werden sollen. Statt eines „normalen“ Strafvollzugs gibt es hier für die Straftäter militärischen Drill und strenge Zucht, Unterricht und jede Menge Arbeit, die die jugendlichen Diebe, Vergewaltiger, Räuber und Mörder resozialisieren soll. Dies ist zwar im Ansatz und im Vergleich zu den Zuständen in anderen russischen Gefängnisse harmlos, doch wenn man die Geschichten hört, die die Insassen dieses Gefängnisses der anderen Art erzählen, ahnt man schnell, dass auch diese Maßnahmen nichts an der unausweichlich vorgezeichneten Laufbahn der Jungs ändern. Weil die Gesellschaft, die sie draußen erwartet und die Verhältnisse, aus denen sie stammen, so verrottet sind, das keinerlei Hoffnung besteht. Am Ende des Films erfahren wir, dass trotz aller guten Vorsätze 91 Prozent der hier gezeigten Straftäter früher oder später wieder rückfällig werden.
Alexandra Westmeiers Allein in vier Wänden, der auch auf diversen internationalen Festivals für einiges Aufsehen gesorgt hat, kommentiert an keiner Stelle das Geschehen und überlasst es ganz den Kindern, von ihrem Leben zu erzählen. Umso beeindruckender und bedrückender sind die Interviews geraten, in denen beispielsweise der Dieb Ljoscha und vor allem der Mörder Tolja von ihrem bisherigen Leben und von ihren Taten sprechen. Letzterer soll bald entlassen werden, doch in seinem Dorf freut man sich nicht auf den Heimkehrer. Vielmehr bringt es die Mutter des Opfers auf den Punkt, was viele dort über Tolja und seinen Komplizen denken: „Töten sollte man diese Kinder!“

Es sind Aussagen wie diese, aber auch die vielen kleinen Geschichten, die die Kinder äußern, die einen heftig schlucken lassen. Obwohl sie zweifelsohne keine Chorknaben sind (auch wenn sie am Ende des Films in seltsamen Kostümen ein russisches Heldenlied intonieren), überwiegt angesichts ihrer Lebensgeschichten Mitleid und das sichere Gefühl, dass es viele solcher Kinder gibt, die im postsozialistischen Russland nie eine faire Chance gehabt haben. Bei allen guten Ansätzen: Daran wird auch dieses Gefängnis rein gar nichts ändern. Obwohl es vielen zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie einen stabilen Rahmen und Halt verleiht. Denn was sie sonst bislang kennengelernt haben, sind vor allem Gewalt, Alkohol und Drogen, Armut und zerrüttete Familienverhältnisse, vor deren Ausmaß an Elend man eigentlich nur kapitulieren kann.

Antworten vermag auch Allein in vier Wänden nicht zu geben. Immerhin aber hat es Alexandra Westmeier, die selbst ursprünglich aus Tscheljabinsk stammt, geschafft, dass sich diese Kinder vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben ausdrücken können. Die Regisseurin hat es verstanden, in einem ebenso beeindruckenden wie bedrückenden Film der Armut und der Gewalt, die das Leben vieler russischer Kinder prägt, ein Gesicht zu geben – und zwar eines, das man nicht so schnell wieder vergisst. Ebenso wie diesen Film, der es versteht, allein mit der Kraft seiner Bilder und seinem Zugang zu den Kindern eine Welt entstehen zu lassen, die wir verstehen und die uns zutiefst berührt.

Allein in vier Wänden

Bei dem hier vorgestellten Modell eines Jugendknastes in Tscheljabinsk würden sich manche politischen Hardliner die Hände reiben, gäbe es Vergleichbares in Deutschland. Zwischen 11 und 16 Jahre alt sind die 120 Kinder, die hier mitten im Ural-Gebirge „umerzogen“ werden sollen.
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Meinungen

Michael Scheier · 18.04.2011

Ist ja schön, lieber Joachim Kurz, dass man die Schicksale der Jungs, die Alexandra Westmeier hier so einfühlsam und bewegend verfolgt, gänzlich dem postsozialistischen Russland zuschieben kann. Hier, in unserer besten aller Welten, haben wir von solchen gesellschaftlich mitverursachten Schicksalen noch nie gehört, oder? Und wenn, dann können wir die ja schnell wieder abschieben -in Gedanken oder auch in der Realität.