3 Herzen

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Das Drama und sein Lauf

Was wäre wenn. Was wäre heute, wenn gestern etwas anders gelaufen wäre? Wo wäre ich heute, wenn ich gestern nicht an diesem oder jenem Ort gewesen wäre? Welcher Mensch wäre ich vielleicht heute, wenn dieses eine besondere Rendezvous damals geklappt hätte? Wenn ich das Klingeln des Telefons damals doch nur gehört hätte? Dass das Drama im Leben wie im Film immer seinen Lauf nimmt, ob nun auf diese oder jene besondere Weise, kann niemand verändern. 3 Herzen von Benoît Jacquot nimmt diese autobiographische Gedankenspielerei auf und macht sie zur untergründigen Basis seines Melodrams.
Der Film beginnt mit einem 20-minütigen Prolog: Marc (Benoît Poelvoorde) verpasst in einer Provinzstadt seinen Zug zurück nach Paris, begegnet bei der Suche nach einem Zimmer zufällig der mysteriös scheinenden Sylvie (Charlotte Gainsbourg). In Szenen à la Before Sunrise tauschen sie weder Namen noch Nummern aus, wandern jedoch mit sichtbarem Interesse füreinander die ganze Nacht durch die Straßen des Orts. Als er am nächsten Morgen wieder fährt, machen sie aus, sich ein paar Tage später in Paris wiederzusehen. Allerdings verfehlen sie sich durch unglückliche Umstände, womit dann die eigentliche Geschichte beginnt, in deren Verlauf Marc sich in Sophie (Chiara Mastroianni) verliebt, Sylvies Schwester. Diese Sylvie hat sich auf ein Leben eingelassen, das sie so eigentlich nie leben wollte. Sie befindet sich als Tochter in der oberen Mittelschicht an der Seite ihres beruflich erfolgreichen Mannes auf einem vorgezeichneten Weg. Diesen will sie unbedingt verlassen, um damit auch der Tristesse ihres kleinstädtischen Lebens zu entfliehen. Ein Mann aus Paris scheint da gerade im rechten Augenblick zu kommen.

Gainsbourg verleiht ihrer Sylvie eine selbstbewusste Aura, deren Kraft sie mittels melancholischer Züge immer wieder aufbricht. Oft verweilt die Kamera auf ihrem Gesicht oder ihren Bewegungen. Ihre Präsenz vor der Kamera ist sehr eindrücklich, sie verleiht der Figur etwas Gespenstisches: auch wenn sie räumlich nicht anwesend ist und die Filmnarration sich zunehmend spezifischen Sachverhalten aus Sophies und Marcs Beziehung annimmt, ist sie stets präsent und befindet sich immer unsichtbar im unmittelbaren Radius der Handlung. Als solch ein Gespenst im Schatten der Handlung ist sie dauernd im Kopf von Sophie und Marc. Ihre Figur ist zentral trotz ihrer Abwesenheit über weite Strecken. Diese Abwesenheit wird zusätzlich geschwächt durch die Anwesenheit und Verwendung neuer Medien, die effektiv und elegant in den Alltag der Figuren verwoben ist. Handy oder Skype heben in 3 Herzen immer wieder den Raum auf, der zwischen den Schwestern (und damit auch zwischen Marc und Sylvie) liegt, nachdem Sylvie nach Nordamerika verzogen ist.

Die Zerbrechlichkeit der Herzen wird dabei zum Leitmotiv. Dies geschieht nicht nur auf emotionaler Ebene innerhalb der Dreieckskonstellation, sondern auch auf physiologischer Ebene, den Herzschlag von Marc betreffend: zu Beginn etwa läuft er mit Sylvie eine Straße entlang und telefoniert, während ein Auto mit offenen Fenstern und laut pumpendem Bass vorbei rast. Dieser präzise montierte Moment lenkt über den kurz anschwellenden Basston die Aufmerksamkeit auf das schnell schlagende Herz des frisch Verliebten Marc (und deutet zusätzlich seine Herzprobleme bereits früh an). Dazu forciert ein schneller Schwenk der Kamera auf das vorbeifahrende Auto und zurück auf die beiden angemessen die Hektik des Moments und auch des pumpenden Pulses. Es sind immer wieder (technische) Objekte, die in 3 Herzen geschickt mit Bedeutung aufgeladen werden, um später Bilder irritieren und ergänzen, in dem sie durch ihre simple Anwesenheit Geschichten erzählen und andere Lebenswelten andeuten. Ein technisches Gerät ermöglicht auch die beste Szene des Films, in der zwei Lebensräume auf unangenehme Weise verschmelzen: Nachdem Marc im Verlauf des Films mit Sophie zusammengezogen ist, ruft er Sylvie nachts heimlich per Skype von Sophies Computer aus an. Sylvie rechnet mit ihrer Schwester, erblickt jedoch ihn auf dem Monitor. Die beiden wechseln kein Wort, wir sehen abwechselnd in ihre entsetzten Gesichter, bis er sich nach kurzer Dauer dafür entscheidet, ins Dunkel des Raumes wegzutauchen.

3 Herzen liefert durchgängig glatt polierte Bilderstrecken, die den Dingen im elterlichen Antiquitätenladen ähneln, in dem die Schwestern arbeiten. Ein Großteil der Handlung ist zielsicher in die bourgeoise Umgebung des Elternhauses eingebettet – samt Gartenpartys und klassischen Essensszenen mit all ihren stummen Dialogen. Innerhalb dieser Interieurs regiert unumstößlich und mit ruhiger Skepsis Madame Berger (Catherine Deneuve), die Mutter der Schwestern (die wiederholt die Filmmutter mimt für Chiara Mastroianni, ihre Tochter auch im wirklichen Leben). Es bleibt leider etwas nebulös, wieso ausgerechnet beide Töchter sich so brennend für den sympathischen, doch etwas plumpen Marc interessieren. Jacquot, der sich auch für das Drehbuch verantwortlich zeigt, lässt den Film bezüglich der Erzählgeschwindigkeit pendeln zwischen naturalistischen Passagen, die die Spannungsschraube langsam anziehen und elliptischen Sprüngen. Dabei offenbaren sich dramaturgische Schwächen, zum Beispiel wenn Marc und Sylvie sich bei der Hochzeit wiedersehen. Direkt danach verschwindet Sylvie wieder in die USA und der Film macht einen Zeitsprung von vier Jahren. Es geht damit weiter, dass Marc und Sophie nun einen Sohn haben. Wieso genau an dieser Stelle eine Ellipse eingefügt ist, anstatt die in dieser Situation interessanten emotionalen Innerlichkeiten der Figuren weiter auszuarbeiten, bleibt des Regisseurs Geheimnis. Gleichwohl ein solches ist, wieso die Zeitsprünge etwas merkwürdig von einer sonoren Erzählerstimme gefüllt werden: „Das Leben nimmt seinen Lauf und Marc ist glücklich.“

Weniger merkwürdig als vielmehr nervend ist das penetrante und mit zunehmender Dauer des Films immer beliebiger eingesetzte musikalische Leitmotiv, ein liebliches Klavierthema plus bedrohlichem Kontrabasstremolo. Die in solchem Übermaß eingesetzte Orchestrierung soll offensichtlich eine hohe Dramatik evozieren. Leider tritt die Bedrohung, die damit dauerhaft angedeutet wird, nie ein. Daraus resultiert dann nicht etwa noch höhere Spannung, sondern man fühlt sich als Zuschauer durch die musikalischen Fingerzeige etwas zu sehr an die Hand genommen. Mit etwas Schärfe könnte 3 Herzen als melodramatischer, sonntäglicher Fernsehfilm für die Generation 45+ bezeichnet werden – gegen diesen Fakt kommt auch das hochkarätige Ensemble nicht an. „Das Meldoram kritisiert die Gesellschaft im Namen des individuellen Glücks, das nichts als sich selber will. Es ergreift Partei für das jeweils kleinere System in der sozialen Struktur: für […] das Individuum gegen die Familie.“ schreibt Georg Seeßlen. Das klingt und ist vielversprechend. Doch was 3 Herzen aus der Geschichte von Marc macht, der gegen die bürgerliche Fassade und ihre Versprechen von Familie, Sicherheit und Treue anrennt, ist leider ziemlich zäh und kommt nicht über sich selbst als hölzern angelegte Erzählung hinaus.

3 Herzen

Was wäre wenn. Was wäre heute, wenn gestern etwas anders gelaufen wäre? Wo wäre ich heute, wenn ich gestern nicht an diesem oder jenem Ort gewesen wäre? Welcher Mensch wäre ich vielleicht heute, wenn dieses eine besondere Rendezvous damals geklappt hätte? Wenn ich das Klingeln des Telefons damals doch nur gehört hätte? Dass das Drama im Leben wie im Film immer seinen Lauf nimmt, ob nun auf diese oder jene besondere Weise, kann niemand verändern.
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Meinungen

Europäer · 23.03.2015

Ein sehr schöner, melancholischer Film, über unerfüllte Liebe. Empfehlenswert.