1917 - Der wahre Oktober

Eine Filmkritik von Falk Straub

Die Revolution frisst ihre Künstler

In diesem Herbst jährt sich die Russische Revolution zum 100. Mal. Regisseurin Katrin Rothe lässt mithilfe der Animation fünf Künstler auf der Leinwand auferstehen, die ihr ganz persönliches Zeugnis über die Wirren jener Tage ablegen und den Dokumentarfilm 1917 – Der wahre Oktober zu einem außergewöhnlichen Seherlebnis machen.
Eine Hand schneidet Großbuchstaben aus roter Pappe aus und klebt sie auf einen Buchrücken, der halb in der Unschärfe versinkt. Die Buchstaben formen das Wort „Revolution“, die Hand gehört Katrin Rothe und die Revolution, die Rothe umtreibt, ist die Russische. Die Filmemacherin will wissen, was wirklich zwischen der Abdankung des Zaren Nikolaus II. im Februar 1917 und der gewaltsamen Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober desselben Jahres geschehen ist. Stimmen all die Bilder, die ihr dazu im Kopf herumschwirren, oder sind sie längst von Kulturerzeugnissen wie Sergej Eisensteins Filmklassiker Oktober (1928) überlagert, der in diesen ersten Minuten irgendwo über einen Laptop flimmert?

Für eine Antwort befragt Rothe längst verstorbene Zeitzeugen. Keine Historiker, sondern fünf Künstler jener Zeit, die in Gestalt von Pappfiguren zwischen den Buchdeckeln hervorlugen, auf die Leinwand klettern und vor gemalten oder gezeichneten Hintergründen jeder zu seiner eigenen Musik aus ihren Werken zitieren. Rothes mit dem Stopptrick animierte Protagonisten sind der Maler, Kunsthistoriker und -kritiker Alexander Benois (Stimme: Hanns Zischler), die Lyrikerin und Literaturkritikerin Sinaida Hippius (Claudia Michelsen), der avantgardistische Maler Kasimir Malewitsch (Arne Fuhrmann), der Schriftsteller Maxim Gorki (Martin Schneider) und der Futurist Wladimir Majakowski (Maximilian Brauer), seines Zeichens (selbsternannter) Dichter der Revolution. Wie im Leben verlaufen auch in der Kunst die Fronten fließend. Gegner des Zaren waren sie alle, sind sich nach dessen Sturz jedoch uneins, was der Monarchie folgen soll. Die Wege mancher kreuzen sich, manche Ansichten wechseln. Und während Gorki und Benois sich für den Erhalt des russischen Kulturerbes starkmachen, fordert Majakowski eine radikale Erneuerung.

1917 – Der wahre Oktober ist der Versuch, die Russische Revolution noch einmal neu, dieses Mal aus der Sicht der Künstler zu erzählen. Dessen Form ist ebenso ambitioniert wie der Inhalt. Jede der fünf Figuren hatte mindestens eine(n) Animator(in). Die Arbeit dauerte Monate. Herausgekommen ist ein visuell ansprechender Mix aus zwei- und dreidimensionalen Trickaufnahmen, unter die sich still und heimlich Archivmaterial und die Abbildung des Entstehungsprozesses mischen. Dann pinnt Katrin Rothe zwischen den visualisierten Künstlerbiografien kleine Pappschilder mit Daten an die Wand, an einen riesigen, roten Zeitstrahl, den eine Erzählerin aus dem Off (Stimme: Inka Friedrich) einordnet, be- und hinterfragt.

Am Ende, wenn Rothe die Papierschnipsel auf dem Boden ihres Ateliers zusammenfegt, hat die Revolution ihre Künstler längst gefressen. Hippius und Benois sind im Exil, in dem auch Gorki weilt, bevor er 1931 zurückkehrt und vom Westen als Stalins Vorzeigeschriftsteller tituliert wird. Malewitsch wird Direktor verschiedener staatlicher Kunstschulen, doch die Werke, die ihn einst berühmt machten, sind längst nicht mehr erwünscht. Majakowski begeht 1930 Suizid. Eine wirkliche Antwort auf ihre Fragen hat Rothe nicht gefunden. Was am Ende bleibt, ist eine Binse: dass es nicht die eine, sondern hunderte Wahrheiten gebe; aber das ist nicht schlimm. 1917 – Der wahre Oktober ist eine davon und eine äußerst sehenswerte noch dazu.

1917 - Der wahre Oktober

In diesem Herbst jährt sich die Russische Revolution zum 100. Mal. Regisseurin Katrin Rothe lässt mithilfe der Animation fünf Künstler auf der Leinwand auferstehen, die ihr ganz persönliches Zeugnis über die Wirren jener Tage ablegen und den Dokumentarfilm „1917 – Der wahre Oktober“ zu einem außergewöhnlichen Seherlebnis machen.
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