Lourdes (2009)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Ein Wunder möglicherweise

So ähnlich muss es wohl aussehen, wenn ein milder Gott auf die Welt herunterschaut: Zu Beginn des Films sehen wir einen leeren Speisesaal aus leicht erhöhter Position, der sich vor dem Ansturm der hungrigen Pilger rüstet, begleitet von Franz Schuberts wundervollem „Ave Maria“. Zunächst werden die Tische gedeckt, dann sehen wir, wie die Kranken und die sie begleitenden Malteserinnen den Saal betreten, wie sich die Menschen an den Tischen niederlassen und wie kurz vor dem Beginn des Essens noch schnell das folgende Tagesprogramm verkündet wird. Ein nahezu klassischer „establishing shot“, der ohne einen einzigen Schnitt das Geschehen in Echtzeit aufnimmt und mit einem langsamen Zoom schließlich zum Zentrum der Sequenz kommt. Das Meisterliche daran: auch wenn die Hauptfigur in dieser Exposition noch am Rande steht bzw. sitzt, so fällt sie doch gleich auf innerhalb dieses Gewusels von Menschen, fällt unser Blick auf sie, erweckt sie unser Interesse.

Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Gruppe von Pilgern einer Reisegesellschaft, die in Begleitung der allgegenwärtigen Malteserinnen nach Lourdes gekommen sind, um dort zu beten. Unter den Pilgern ist auch Christine (Sylvie Testud), eine ernste und durchaus kritische jungen Frau, die aufgrund ihrer MS-Erkrankung vom Halswirbel abwärts gelähmt ist und nur noch den Kopf bewegen kann. Trotz dieser Krankheit und ihrer Distanz geht aber eine unglaubliche Wärme von ihr aus, übt sie eine Faszination auf den Zuschauer aus, die sie von Anfang an zu etwas ganz Besonderem macht. Und tatsächlich: Im Verlauf des Aufenthaltes in Lourdes tritt eine spürbare Besserung von Christines Symptomen ein, erhebt sie sich aus dem Rollstuhl und kann plötzlich wieder gehen – ein Wunder? Oder ein Zufall? Eine Erklärung für dieses wahrhaft unglaubliche Phänomen gibt es jedenfalls nicht.

Doch die wundersame Heilung Christines erntet keinesfalls nur Bewunderung und Freude, sondern auch Selbstzweifel, Neid und Eifersucht. Warum wurden gerade die Gebete dieser einen Frau erhört, während so viele andere Menschen, deren Glauben fester, deren Erkrankungen schmerzhafter und quälender sind als ihre, weiterhin leiden müssen? Ist dieses Wunder gerecht? Und warum hoffen wir überhaupt immer wieder auf Wunder, wenn wir doch am Ende alle sterben müssen?

Mit bewundernswertem Blick für die realistischen Details und außergewöhnlichen Kameraeinstellungen siedelt Jessica Hausner ihren Spielfilm zu großen Teilen im faktisch Vorhandenem an, schildert sie den Wallfahrtsort Lourdes so, dass man neben der Spielfilmhandlung dokumentarisch anmutende Einblicke in den Wahn und den Kommerz des Wunderglaubens, die die Saat des Zweifels in uns säen, ob das gezeigte Wunder sich tatsächlich so ereignet haben kann. Mit den Augen der grandiosen Hauptdarstellerin Sylvie Testud (Jenseits der Stille), die abwechselnd kindlich und dann wieder unendlich alt wirkt, wandeln wir durch den Ort, bewegen uns innerhalb eines genau abgezirkelten Territoriums mit wiederkehrenden Handlungsorten und können uns so der Ambivalenz von Lourdes mit aller seiner Magie, seinem Kitsch, seinem Pomp und der ganz eigenen Atmosphäre zwischen Verzweiflung und Hoffnung, Frömmigkeit und Geschäftstüchtigkeit kaum entziehen.

Als ein „böses Märchen“ will Jessica Hauser ihren neuen Film Lourdes verstanden wissen — und genau das trifft den Nagel auf den Kopf. Mit ihrem beeindruckenden Werk voller Ambivalenzen wirft die österreichische Filmemacherin eine Menge Fragen auf und verweigert sich wie bereits bei ihrem Anti-Horrorthriller Hotel allen Antworten und Erklärungsversuchen. Ist es wirklich ein Wunder, das Christine widerfährt? Oder entpuppt sich das ganze Miraculum gar als Traum, als Wunschvorstellung, das letzten Endes keinen Bestand haben wird? Die Interpretationsmöglichkeiten sind vielfältig und bewahren letztlich das Geheimnis des Glaubens und der Wunder für sich. Allem Realismus des Ortes zum Trotz verbirgt sich in der Erzählung eher eine zutiefst menschliche Parabel über das Wesen des Glaubens und des Hoffens, eine tieftraurige Reflektion über die Wege, die das Leben nehmen kann und wie wir damit zurechtkommen müssen. Vielleicht ist es ja gerade der offene Schluss, sind es die nicht verknüpften Enden der Erzählung, die vielen Fragen und Uneindeutigkeiten, die dafür sorgen, dass man über diesen Film noch lange nachdenken wird. Wunder, so scheint der Film zu sagen, kann man nicht erklären. Und man kann sich nicht einmal darauf verlassen, dass es sie wirklich gibt. Religiös erbaulich ist das nicht gerade. Aber unglaublich dicht, authentisch und zu Herzen gehend inszeniert.
 

Lourdes (2009)

So ähnlich muss es wohl aussehen, wenn ein milder Gott auf die Welt herunterschaut: Zu Beginn des Films sehen wir einen leeren Speisesaal aus leicht erhöhter Position, der sich vor dem Ansturm der hungrigen Pilger rüstet, begleitet von Franz Schuberts wundervollem „Ave Maria“.

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Meinungen

Johannes Hintzen · 15.12.2009

Eine Vorbemerkung: Den Film versteht nur jemand, der Lourdes kennt, und das dürfte nur etwas mehr als die Hälfte der Deutschen betreffen. Das vorausgesetzt ist der Film weniger einer über Lourdes als vielmehr über die Menschen, die mit ihren ganz unterschiedlichen Erwartungen, Haltungen, Vorstellungen diesem französischen Wallfahrtsort begegenen. Da ist der alte Mann im Rollstuhl, der gar keine Erwartung auf Befreiung vom Rollstuhl hat, sondern hofft, in Lourdes endlich mal wieder in Gesellschaft sein zu können ("Wenn ich jetzt nach Hause komme, ist eh niemand da."). Da ist die alte Frau, die sich intensiv um das junge Mädchen im Rollstuhl bemüht und damit etwas Selbstwertefühl gewinnt usw. Im Grunde ist die zentrale Figur der jungen Frau nur der Prototyp all dieser unterschiedlichen Menschen, die im Film mal näher, mal weniger nah bis anonym begegnen. Der film zeigt die verborgenen Wünsche, Sehnsüchte und Leiden, die heutige Menschen berührt und die beachtet werden wollen. So macht er den Zuschauer sensibel, seinerseits eben darauf zu achten: Was bewegt meinen Mitmenschen? Worauf sind seine Wünsche, Sehnsüchte ausgerichtet? Was kann ich für ihn tun? Und so kann jeder Ort ein Ort wie Lourdes werden, wenn es da Menschen gibt, die sich dieser Sehnsüchte, Wünsche, Leiden annehmen.