Théo & Hugo (2016)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Modern Love

Man sollte meinen, dass es nicht allzu schwierig ist, in einer filmischen Erzählung eine offene, ungehemmte Sexualität mit hingebungsvoller, aber nicht verkitschter Romantik zu kombinieren. Und doch gelingt es in den wenigsten Fällen. Meg Ryan und Tom Hanks im Sex-Club-Rausch? Undenkbar! Kim Basinger und Mickey Rourke in einer Glückssituation abseits der körperlichen Ekstase? Ebenso unvorstellbar! Einige Leinwandversuche auf diesem Gebiet erweisen sich bei aller Lust als hochgradig lustfeindlich und verwechseln Stalking mit Gefühlsintensität (zum Beispiel Twilight oder Fifty Shades of Grey); bei anderen wird eine mit ausschweifendem Sex gekoppelte Liebe ganz zwangsläufig ins Verderben getrieben (etwa in Gaspar Noés Love). Die Ausnahmen lassen sich nicht selten im queeren Kino ausfindig machen.

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Zu diesen Vertretern zählt auch Théo & Hugo, die neue Schöpfung des französischen Regie- und Drehbuch-Duos Olivier Ducastel und Jacques Martineau, das mehr als 20 Jahre miteinander liiert war und nach der privaten Trennung immer noch zusammenarbeitet. Seit ihrem gemeinsamen Langfilmdebüt Jeanne et le garçon formidable (1998) haben sich die beiden in Werken wie Felix (2000), Mein wahres Leben in der Provinz (2002) oder Meeresfrüchte (2005) meist auf tragikomische Weise mit Liebe und Erotik befasst – und liefern mit Théo & Hugo ihren bis dato eindrücklichsten Film. Die Geschichte beginnt um 04.27 Uhr im Keller des Pariser Gay-Clubs Impact: Théo (Geoffrey Couët) entdeckt in der kopulierenden Menge Hugo (François Nambot) – und bald finden sich die Hände, die Münder, die gesamten Körper der zwei jungen Männer. Um 04.47 Uhr verlassen die beiden zusammen den Club, fahren auf Leihrädern durch die frühmorgendliche Stadt, exklamieren ihre Empfindungen – bis sich ein Konflikt auftut, der die beiden in die Notaufnahme führt. Im weiteren Verlauf sind sie zu Fuß unterwegs oder nehmen die erste Métro des Tages; sie streiten und versöhnen sich und lernen sich dabei kennen. Am Ende ist es 06.00 Uhr und ausnahmslos alle dürften verliebt sein: Théo, Hugo – und das Publikum.

Théo & Hugo gemahnt an zahlreiche kinematografische Werke. So lässt die explizite, surreal ausgeleuchtete und mit Techno-Klängen unterlegte Eröffnungssequenz an John Cameron Mitchells furchtloses New-York-Porträt Shortbus (2006) denken. Wenn nach 15 Minuten der erste Satz fällt und schließlich mit dem Hinaustreten auf die Straße das Parlieren und Flirten einsetzt, kommt schnell die Before-Trilogie von Richard Linklater (1995-2013) sowie, aufgrund des schwulen Kontexts, vor allem Andrew Haighs Weekend (2011) in den Sinn. Da Ducastel und Martineau das Geschehen mit ihrem Kameramann Manuel Marmier an Originalschauplätzen einfangen und es zudem in Echtzeit schildern (wenn auch nicht in einer einzigen Einstellung, aber vielen langen Aufnahmen), werden Erinnerungen an Sebastian Schippers Victoria (2015) wach – indessen man auf inhaltlicher Ebene etwa noch Bezüge zu Agnès Vardas Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7 (1962) herstellen kann. Doch Théo & Hugo ist bei Weitem nicht nur wegen dieser Parallelen ein wunderschöner Film. Hugo, ein Notarfachangestellter, der seinem Heimatdorf entflohen ist und eines Tages als Notar tätig sein möchte, und Théo, ein ehemaliger Industriedesignstudent, der in einer Firma ein Praktikum macht, allerdings lieber humanitäre Hilfe leisten will, sind glaubhafte Protagonisten, denen die bemerkenswerten Nachwuchstalente François Nambot und Geoffrey Couët Leben einhauchen. Die beiden Schauspieler lassen uns spüren, wie Lust sich zur Liebe ausweiten kann, während man zwar nicht betrunken, aber „wie betrunken“ ist. „Komischer Anfang für eine Beziehung“, meint Hugo an einer Stelle. Das mag stimmen – gleichwohl ist es ein absolut nachvollziehbarer. Und ganz nebenbei wird mit dem „romantischen Sprint“ sogar noch eine hübsche Liebesfilmsituation erfunden.

Darüber hinaus bieten Ducastel und Martineau reizvolle Einblicke in die Pariser Nacht beziehungsweise den frühen Morgen: Wenn Théo und Hugo von ihrem Hunger in einen 24-Stunden-Dönerladen getrieben werden oder später in der Métro sitzen, kommt es zu interessanten Begegnungen. „Ich habe mich zu oft verliebt“, sagt eine ältere Pendlerin, die als Zimmermädchen in einem Hotel arbeitet. Dass das, was dieser Film uns zeigt, einem zu oft passieren kann, will man gar nicht glauben. Théo & Hugo ist ein sinnliches, sehr charmantes Erlebnis, das den Beginn einer Liebe erfasst: aufrichtig und in der perfekten Balance aus körperlicher und emotionaler Intimität, die kaum eine romcom und kaum ein Melodram zu finden vermag.
 

Théo & Hugo (2016)

Man sollte meinen, dass es nicht allzu schwierig ist, in einer filmischen Erzählung eine offene, ungehemmte Sexualität mit hingebungsvoller, aber nicht verkitschter Romantik zu kombinieren. Und doch gelingt es in den wenigsten Fällen. Meg Ryan und Tom Hanks im Sex-Club-Rausch? Undenkbar! Kim Basinger und Mickey Rourke in einer Glückssituation abseits der körperlichen Ekstase? Ebenso unvorstellbar!

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