The Event (2015)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Der Projektor in der Gegenwart

Einmal gibt es in The Event einen Schwenk im Regen von Leningrad. Er bewegt sich über das Meer der Gesichter, die Sergei Loznitsa wie bereits in seinem Film Maidan als Masse interessieren, vielleicht sogar als Nation. Der Schwenk endet in einem großartigen Bild. Am rechten Bildrand steht ein einsamer Mann mit Regenschirm. Er scheint nicht nur den Geschehnissen auf dem Platz zu folgen, sondern den Videogrammen dieser Revolution. Im Tondesign des unerreichten Vladimir Golovnitsky hört man Regen auf den Schirm prasseln. Wo sind wir? Wir sind in St. Petersburg 1991 und der Film besteht aus Found Footage zum Moskauer Augustputsch. Der Film strukturiert die von Filmstudenten gedrehten Aufnahmen, die Loznitsa in einem erstaunlich unberührten Zustand im Archiv eines Fernsehsenders vorfand, mit Schwarzblenden und Tschaikowskis Schwanensee. Dabei stellt das Musikstück gleichermaßen einen Kommentar auf die Verwendung der Melodie im russischen Fernsehen als auch einen wahrhaftigen Abgesang dar.

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Dieser prasselnde Regen, der sich durch die geschichtliche Distanz drückt, arbeitet an derselben Idee wie vieles im Film: Vergegenwärtigung. Auf den ersten Blick haben wir es hier mit einem geschichtlichen Prozess zu tun, in den uns Loznitsa mit Ausnahme einiger textlicher Verweise unbedarft hineinwirft. Er zwingt uns zu sehen und zu hören mitten in der Konfusion, im Herzen einer Veränderung, die – wie wir heute wissen – in ihrem Scheitern einer Tragödie gleicht. Menschen auf der Straße, ein Fahrzeug wird umgeschmissen, es gibt Reden, offizielle und inoffizielle Aussagen. Ein Durcheinander, das sich perfekt ineinander fügt zu einem jetzt-gewordenen Zeitbild. Auf der Tonebene passiert mindestens genauso viel wie auf der Bildebene. In mancher Hinsicht ist die an Loznitsas Blockade erinnernde Found-Footage-Bearbeitung ein Gegenpol zu Maidan, der auch von seiner Aktualität, Dringlichkeit und der Tatsache lebte, dass man inmitten eines politischen Sturms auf das Recht der Kadrierung pochen sollte, weil sie ein politisches Statement ist. Nach einiger Zeit stellt sich in The Event jedoch eine schwarz-weiße Aktualität ein und es entsteht die Frage: Ist das heute? Ist die Kamera in der Gegenwart oder in der Vergangenheit? Was man nicht vergessen darf: Der Projektor ist immer in der Gegenwart.

Die Nation bleibt also in Bewegung, egal ob 1991 oder heute. Dabei interessiert sich Loznitsa sehr für die Reaktionen auf politisches Chaos und Veränderungen. Das Verschwinden von Gorbatschow ist ein Blick in die Gesichter der Menschen, die als Individuen keinen Einfluss haben. Nur Wut, Verzweiflung und ein gemeinsames Aufbegehren katalysieren dieses kurze Aufflammen demokratischer Ideale. Und diese Gesichter sind tatsächlich die gleichen 1991 in Moskau und 2014 in Maidan. Eine Engführung, in der Found Footage nicht wie aus dem Archiv wirkt, sondern ganz gegenwärtig. Die Schönheit der Aufnahmen und die Sinnlichkeit des Tons vermischen sich zu einer Plötzlichkeit, die uns wirklich in die Geschichte hineinversetzt, ohne dass wir wie etwa in László Nemes‘ Son of Saul dabei die nötige Distanz verlieren. Loznitsa tut nicht so, als wäre es die Gegenwart, die er vergegenwärtigt. Das ist ein immenser Unterschied, denn er zeigt, dass man beides zugleich wahrnehmen kann: die Geschichte und ihre Relevanz.

Diese Relevanz entfaltet gegen Ende fast agitatorisches Potenzial. Man möchte auf die Straße gehen, man möchte an etwas glauben. Aus der Vergangenheit argumentiert Loznitsa also über die Gegenwart in die Zukunft. Er braucht dazu keinen Voice-Over und kein aufgesetztes Narrativ. Alles entsteht aus der Montage, dem Ton und einer subtilen Manipulation, die sich nicht ganz in Neutralität üben kann und will. In diesem Sinn kann man Loznitsa durchaus Vorwürfe machen, schließlich ist seine Manipulation nicht unbedingt transparent, man kann das aber auch als seine Subjektivität interpretieren, die hinter den Bildern steckt. Bilder, die seine geworden sind und dann unsere werden.
 

The Event (2015)

Einmal gibt es in „The Event“ einen Schwenk im Regen von Leningrad. Er bewegt sich über das Meer der Gesichter, die Sergei Loznitsa wie bereits in seinem Film „Maidan“ als Masse interessieren, vielleicht sogar als Nation. Der Schwenk endet in einem großartigen Bild. Am rechten Bildrand steht ein einsamer Mann mit Regenschirm.

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