Striche ziehen.

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Rekonstruktion, Konfrontation – und Vergebung?

Beinahe drei Dekaden lang – von August 1961 bis November 1989 – markierte die Berliner Mauer die innerdeutsche Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Auf der Ostseite war die Mauer eine weiße Wand; auf der Westseite hingegen war sie mit bunten Graffitis bemalt und wurde mit der Zeit von vielen Leuten nur noch als Sehenswürdigkeit wahrgenommen. Dies veranlasste fünf junge Männer, die alle ursprünglich aus der DDR stammten, im November 1986 zu einer Kunst- und Protestaktion: Um die Berliner Mauer auch im Westen wieder als Grenze sichtbar zu machen, zogen sie mit einem Bollerwagen sowie eimerweise weißer Farbe los und versahen die Westseite des verhassten Bauwerks mit einem kilometerlangen, weißen Strich – bis das Unterfangen zu einem jähen Ende kam. Der Dokumentarfilm Striche ziehen. von Gerd Kroske erzählt von den Ereignissen vor, während und nach der Aktion.
Deren Vorgeschichte führt in die Weimarer Punk-Szene der frühen 1980er Jahre. Hier wurden Underground-Partys gefeiert, Konzerte gegeben, Dada-Happenings veranstaltet – und Sprühaktionen durchgeführt: „Macht aus dem Staat Gurkensalat!“ Unter den jungen Rebellen, die sich gegen den repressiven Staat auflehnten, befanden sich auch die fünf späteren Teilnehmer der Aktion „Der weiße Strich“: zwei Brüder und drei Freunde, geboren zwischen 1962 und ‚66. Alle fünf machten in ihrer Heimat Erfahrungen mit dem Gefängnis – ab 1984 gelang ihnen aber die Ausreise nach West-Berlin; einer von ihnen wurde direkt aus dem Abschiebegefängnis dorthin gebracht. Die Strich-Aktion im Westen war von der Gruppe als Fortsetzung ihrer Auflehnung gedacht. Am zweiten Tag wurden zwei von ihnen jedoch von DDR-Grenzsoldaten überrascht: Da auch die westliche Mauerseite zum Territorium der DDR zählte, nahmen die Soldaten einen der beiden jungen Männer fest und brachten ihn in den Osten, wo er zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Als etliche Jahre später – 2010 – im Rahmen eines Buchprojekts über die Aktion und ihre fünf Protagonisten Nachforschungen angestellt wurden, stellte sich heraus, dass einer aus der Clique zwischen 1981 und 1984 der Stasi als „Inoffizieller Mitarbeiter“ Informationen über die Punk-Szene geliefert hatte.

In Kroskes Werk kommen nun zahlreiche Beteiligte zu Wort. Der Filmemacher präsentiert jedoch (erfreulicherweise) nicht einfach nur talking heads. Die von Anne Misselwitz geführte Kamera ist sehr beweglich: Mal sucht das kleine Team mit den Protagonisten alte Schauplätze auf, mal zeigt es sie in ihrem jetzigen Lebensraum; gelegentlich stellt der Regisseur Fragen aus dem off. Neben diesen Momenten gibt es Archivmaterial (auch einen abgefilmten alten Fernsehbeitrag) sowie Ausschnitte aus Super-8-Filmen, die von der Gruppe einst selbst gedreht wurden. Überdies kommen Fotografien und Musikaufnahmen zum Einsatz; besonders stark ist eine Passage, in welcher Schnappschüsse aus der Jugendzeit auf einer Fotowand in rascher Bewegung eingefangen und mit punkigen Klängen unterlegt werden. Diese Einblicke in die Weimarer Subkultur der 1980er Jahre sind überaus eindrücklich und interessant.

Auch dramaturgisch ist Striche ziehen. keine dröge Angelegenheit. Kroske widmet sich in ausgewogenem Maß sowohl der Perspektive des Ex-Spitzels als auch der Perspektive der einstmals Bespitzelten. Ersterer schildert seine damalige Situation – und sagt, es sei sein „größter Lebensfehler“ gewesen, sein Umfeld an die Stasi verraten zu haben. Zugleich zeigt sich bei ihm eine gewisse Resignation: „Du kannst nichts machen.“ Da der „Verräter“ meint, selbst „eindeutig ein Opfer“ zu sein, sucht der Regisseur auch das Gespräch mit einem ehemaligen Stasi-Leutnant (der gemeinsam mit seiner Gattin nur zu hören ist und „Ruhe haben“ will) sowie mit einem Ex-Grenzaufklärer, der seine Uniform und seine Orden präsentiert.

Striche ziehen. zeigt, wie Menschen ihrer Vergangenheit begegnen – mal mit Ratlosigkeit („Ich weiß nicht, was die Leute von mir erwarten“), mal mit entschiedener Verdrängung. Die Rekonstruktion der Geschehnisse mündet hier in eine Konfrontation. Coming of age und Widerstand, Familie und Freundschaft, Verrat, Schuld und die (Un)Möglichkeit der Vergebung – selten wurden diese Themen in einem Dokumentarfilm so spannungsreich behandelt wie bei Kroske.

Striche ziehen.

Beinahe drei Dekaden lang – von August 1961 bis November 1989 – markierte die Berliner Mauer die innerdeutsche Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland.
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