Stories We Tell

Eine Filmkritik von Sebastian Moitzheim

Unzuverlässige Erzähler

„Who fucking cares about our family?“, antwortet Sarah Polleys Schwester auf die Frage, was sie von Polleys Vorhaben halte, eine Dokumentation über ihre Familie zu drehen. Sie sagt diesen Satz beiläufig, halb im Scherz, doch sie kreiert damit unwissentlich einen Moment, der vieles von dem zusammenfasst, was Stories We Tell ausmacht: das ständige Hinterfragen des eigenen Ansatzes und das damit verbundene Durchbrechen der vierten Wand, was verhindert, dass Polleys Film, der sie selbst und ihre eigene Geschichte mehr und mehr in den Mittelpunkt rückt, zur eitlen Nabelschau wird; und den humorvollen, saloppen – eben familiären – Ton, der eben diesen Meta-Elementen ein wenig das Prätentiöse nimmt und ein angenehmes Gegengewicht darstellt zur rauen, schonungslosen, fast unangenehmen Ehrlichkeit, mit der Polley und ihre Familie auch die traurigen oder milde traumatischen Elemente der eigenen Geschichte erzählen.
In diesem und ähnlichen Momenten, die bei gewöhnlichen Dokumentationen wohl früh dem Schnitt zum Opfer fallen würden, offenbart sich Polleys Herangehensweise und Intention: Unvollkommenheiten, scheinbar Überflüssiges, kleine Fehler, Widersprüche, all das ist Teil der Geschichte(n), die Polley erzählen möchte. Es geht, oberflächlich betrachtet, um Polleys Mutter, früh verstorben und somit das einzige Mitglied der Familie, dessen Version der Geschichte wir nicht erfahren. Es geht aber auch um die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen und darum, wie wir unsere eigene Geschichte schreiben, unsere eigene Wahrheit erschaffen, weil es die eine, objektive Wahrheit nicht gibt.

Entsprechend gibt Polley sich Mühe, keine der vielen Versionen der Geschichte zu bevorzugen, sie alle gleichberechtigt und mehr oder weniger unkommentiert nebeneinander zu stellen. Da sind die Interviews mit ihren Geschwistern, ihrem Vater und anderen, die im Leben ihrer Mutter eine Rolle gespielt haben; die Home Movies, teils echt, teils in beeindruckender Detailverliebtheit mit Schauspielern nachgestellt; und da ist die Voice Over-Narration ihres Vaters, Schauspieler Michael Polley, die eloquenteste, scheinbar selbstbewussteste Variante, die, wie wir im Laufe des Films erfahren, von Michael Polley selbst geschrieben wurde. Doch auch die wird wiederum gebrochen, durch gezielt gegengeschnittene Widersprüche in der Erzählung der anderen Familienmitglieder und auch in Michaels eigenen Interviews, und indem Polley auch die Studioaufnahmen eben dieser Narration zeigt, während der Michael so gar nicht überzeugt von seinen Worten scheint und Zweifel an Polleys Plan äußert, ihn als „Erzähler“ ihres Films einzusetzen.

Polley selbst hält sich, solange es geht, zurück. Sie dreht die Kamera erst um, als sich die Geschichte ihrer Mutter auf eine Offenbarung über Polleys eigene Identität zuspitzt und ihre Geschwister sie auf etwas aufmerksam machen, das selbst Polley als einfache Wahrheit anerkennen muss: So sehr sie sich um Gleichberechtigung der verschiedenen Perspektiven bemüht, kann auch Stories We Tell letztlich nur eine Version der Geschichte abbilden, nämlich Polleys eigene. Am Ende ist Sara Polley, ungeachtet des kollaborativen Ansatzes, doch die Autorin ihres Films. Das ist Polley fast unangenehm: Ihre Selbstzweifel über den (vorgegebenen?) Ansatz, ja die Legitimität ihres Films, spielen mit zunehmender Laufzeit eine immer größere Rolle. Fast hat man das Gefühl, Polley möchte sich schon im Voraus für den Film, der Stories We Tell letztlich geworden ist, entschuldigen.

Diese Selbstzweifel machen Polley sicher sympathisch und sind natürlich die Quelle der erwähnten Meta-Ebene, die Stories We Tell zu so viel mehr macht als „nur“ einer autobiographischen Dokumentation. Wirklich angebracht sind sie, angesichts des Ergebnisses ihrer Arbeit, aber nicht: Stories We Tell ist ein kleines Meisterwerk, ein gleichermaßen persönlicher, intimer wie universeller Film. Ein Film, der mit beeindruckender Leichtfüßigkeit so gar nicht simple Fragen stellt: Warum erzählen wir Geschichten? Wie wahr kann eine nur auf unserer Erinnerung basierende Geschichte sein – verfälscht schon das bloße Erzählen die Wahrheit? Wer hat überhaupt das Recht, eine Geschichte zu erzählen? Dabei ist der Film nie anstrengend oder verkopft, sondern lustiger als jede Komödie, berührender als die meisten Dramen, spannender als so mancher Thriller. „Who fucking cares about our family?“ Am Ende von Stories We Tell wohl so gut wie jeder.

Stories We Tell

„Who fucking cares about our family?“, antwortet Sarah Polleys Schwester auf die Frage, was sie von Polleys Vorhaben halte, eine Dokumentation über ihre Familie zu drehen. Sie sagt diesen Satz beiläufig, halb im Scherz, doch sie kreiert damit unwissentlich einen Moment, der vieles von dem zusammenfasst, was „Stories We Tell“ ausmacht.
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Meinungen

Helmut Schiestl · 10.03.2014

Mir hat der Film nicht so gefallen. Ich finde die erzählweise etwas verwirrend, man blickt oft nicht ganz durch durch die vielen Vor- und Rückblenden, und das Thema ist vielleicht auch zu banal. Wieviele Menschen gibt es schließlich, die im Laufe ihres Lebens draufkommen, dass ihre Eltern oder ein Elternteil gar nicht der leibliche ist. Sicher ist die Geschichte mit dem frühen Tod von Sarah Poleys Mutter tragisch, und ich schätze jene auch als gute Filmemacherin, aber aus diesen Schnipseln einen Film zu machen, ich weiß nicht. Und was mich noch interesieren würde: Waren ihre Geschwister jetzt von der ersten Ehe von Polleys Mutter, die wurden dieser ja genommen, wie mal im Film hingweiesen wird, oder doch von ihrem vermeintlichen Vater? Und welche Rolle spielte Rebecca Jenkins in den Film. Laut Angaben die Mutter von Polley, aber warum, da man diese doch in den Superachtfilmen sieht, oder wurde das wieder nachgestellt eben mit Jenkins? Also wie Sie sehen, ein Film, der mehr Fragen aufwirft als er beantworten kann. Von einem Meistwerk würde ich da nicht reden.