Small World (2010)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Risse hinter der Fassade

Der diskrete Charme der Bourgeoisie ist eines der Lieblingsthemen des französischen Kinos. Nicht nur der vor kurzem verstorbene Altmeister Claude Chabrol spielte immer wieder virtuos auf dieser Klaviatur. Auch der 1966 geborene Bruno Chiche schlägt leichthändig-souveräne Töne an, wenn es darum geht, Dissonanzen zwischen Geld und Familie aufzuspüren.

Es ist der Stoff eines Schweizers, nämlich Martin Suters bislang erfolgreichster Roman Small World (so auch der Filmtitel), der hier so genial ins elegant-französische Milieu versetzt wird. Suters Hauptfigur ist der 60-jährige Konrad Lang (im Film: Gérard Depardieu), ein Außenseiter aus reichem Hause, der langsam in die Demenz abgleitet. Das wäre für seine Angehörigen eigentlich recht erfreulich. Denn sie haben ihn gerade deshalb aufs gut gepolsterte Abstellgleis geschoben, damit er gar nicht erst auf die Idee kommt, in der düsteren Vergangenheit der Familie herumzuschnüffeln. Das Dumme ist nur: Je mehr Konrads Kurzzeitgedächtnis verloren geht, umso besser erinnert er sich an Szenen aus der frühen Kindheit. Schlimmer noch: Ihm fallen sogar Episoden ein, die er komplett vergessen hatte.

Regisseur und Drehbuchautor Bruno Chiche verdichtet den Stoff zu einem doppelbödigen Familiendrama. Er lässt das Alzheimer-Thema eher nebenher laufen und konzentriert sich auf die Leichen, die im Keller der Fabrikantenfamilie Senn liegen, insbesondere in dem von Großmutter Elvira (Françoise Fabian), einer Art Matriarchin der Sippe. Die hat außer mit Konrad auch mit Simone (Alexandra Maria Lara) ihre Probleme, der frisch angetrauten Frau von Elviras Enkel Thomas, dem vielversprechenden Firmenchef.

Schon in den ersten Szenen werden die Risse spürbar, die hinter der großbürgerlichen Fassade lauern. Bruno Chiche zeichnet mit seinem Kameramann Thomas Hardmeier und seinem Ausstatter Hervé Gallet eine perfekte Oberfläche ohne jede Ironie — mit detailgenau ausgesuchten Dekors, hochherrschaftlichen Anwesen und mildem Winterlicht. So kann er die untergründigen Spannungen umso feiner andeuten, in kurzen verächtlichen Blicken, kleinen missbilligenden Gesten oder einem verunsichernden Augenaufschlag.

Schon nach wenigen Filmminuten sind die Fronten klar: hier die „guten“ Familienmitglieder und dort die nur geduldeten, die man am liebsten an den Katzentisch verbannen würde und denen man Geldgier und Schmarotzertum unterstellt. Das heißt umgekehrt: Die einzigen einigermaßen Unbeschädigten sind „Outlaws“, also der demente Konrad und die ungeliebte Simone. Daraus entwickelt sich eine wunderbare Spannung und zugleich eine innige Verbrüderung zwischen dem tollpatschigen, aber auch verletzlichen Gérard Depardieu und der zurückgenommenen, aber genauso eigenständigen Alexandra Maria Lara. Ihrem stummen Einverständnis und ihrer eigentlich aussichtslosen, aber dadurch umso wirksameren Rebellion widmet der Film seine schönsten Szenen. Etwa wenn die junge Frau dem alten Mann nachts auf einer Parkbahn im Regen einen Schirm bringt. Und wenn der sich dadurch revanchiert, dass er im Café einen Schirm aufspannt. Was keinesfalls ein Anfall von Demenz ist, sondern dazu dient, der Jungvermählten den Blick auf den untreuen Ehemann zu ersparen.

Überhaupt ist es tröstlich, in welches Licht Small World die Alzheimer-Krankheit taucht. Wenn man derart in Würde in eine etwas absonderliche Welt abgleiten könnte wie Gérard Depardieu in diesem Film, dann wäre viel gewonnen. Aber die Wirklichkeit ist leider schlimmer als die Fantasie.
 

Small World (2010)

Der diskrete Charme der Bourgeoisie ist eines der Lieblingsthemen des französischen Kinos. Nicht nur der vor kurzem verstorbene Altmeister Claude Chabrol spielte immer wieder virtuos auf dieser Klaviatur. Auch der 1966 geborene Bruno Chiche schlägt leichthändig-souveräne Töne an, wenn es darum geht, Dissonanzen zwischen Geld und Familie aufzuspüren.

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Meinungen

Silli · 04.01.2021

Ein sehr verwirrender Film. Bis zum Schluss haben wir die familiären Zusammenhänge nicht verstanden. Nicht zuletzt wegen dem viel zu gering erscheindenden Altersunterschied innerhalb der Stiefmutter und den "Söhnen", es blieb undurchsichtig auch zuletzt, weil die Erklärung der Stiefmutter, sie hätte alles für ihren Sohn getan, unschlüssig blieb, da er ja genauso wenig der leibliche Sohn des reichen Industriellen war wie der an Demenz leidende Halbbruder. Einige dieser wichtigen Informationen wurden ziemlich am Anfang des Films in an sich unsinnige Dialoge gepackt (die Familienangehörigen wusste ja doch schon lange um die Zusammenhänge, warum unterhalten sie sich dann demonstrativ darüber?) Wenn man da nicht genau zugehört hat, war es vorbei mit dem Verständnis.
Insgesamt ein ziemlicher Nonsens, der allein sehenswert blieb durch die Präsenz von Depardieux, welcher hervorragend spielte, und die fürsorgliche Beziehung der jungen Simone zum dementen Konrad.

M.Kaspi@web.de · 23.11.2010

Das Buch habe ich vor ein paar Jahren gelesen. Ich war gefesselt und gleichzeitig erschüttert über dieses Buch. Der Schriftsteller Martin Suter hat in diesem Buch diese Krankheit zum Thema gemacht und genau recherchiert.Ich finde es richtig und gut das ,dass Buch verfilmt wurde, damit viele Menschen diese Krankheit aus einem anderen Blickwinkel sehen und mehr Verständnis aufbringen. Seit 2005 leidet mein Mann an Alzheimer.