Sie küssten und sie schlugen ihn

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Bravourstück einer cineastischen Revolution

Die unscharf umrissene Zwielicht-Zone zwischen Kindheit und Erwachsensein, die so lapidar als Pubertät bezeichnet wird, markiert vor allem auch einen Zustand abgründiger Einsamkeit, an die sich der französische Filmtheoretiker und Filmemacher François Truffaut mit seinem Spielfilmdebüt Sie küssten und sie schlugen ihn auf intensive Weise erinnerte. Nichts sei erfunden, bemerkte der Regisseur und Autor über sein stark autobiographisch geprägtes Jugend-Drama, alles erlebt, selbst oder berichtet. Und es sind eben diese ebenso faszinierende wie schonungslose Authentizität sowie François Truffauts mitunter waghalsige Weigerung, Schmerzliches zu vermeiden, die diesem Auftakt zu seinem umfassenden, kostbaren Werk an Spielfilmen seine eindringliche Qualität verleihen.
Den damals 14jährigen Jean-Pierre Léaud hat sich François Truffaut als Verkörperung des jungen Antoine Doinel erwählt, der unter widrigen Umständen bemüht ist, die Balance zwischen kecker Unbekümmertheit und nahender Verzweiflung in seinem zwölfeinhalb Jahre alten Leben zu finden. Und dieses ist durchtränkt von einer inneren Isolation, die in düsteren, starken Bildern einen wahrhaft berührenden Ausdruck findet: In der Schule als allzu leicht zu identifizierendes Subjekt von Unruhe und Störungen, im Elternhaus als emotional vernachlässigtes Kind und auf der Straße als ungeschützt streunender Junge. Dennoch stattet François Truffaut seinen tragischen Helden als Reminiszenz an die eigenen Kindheitserlebnisse mit tragenden Komponenten aus.

Es ist eine widerborstige Individualität, die Antoine Doinel auszeichnet und darauf hinweist, dass er das Potential und Talent besitzt, seine Hilflosigkeit angesichts der Übermacht an Repression eines Tages in kreative Kräfte zu verwandeln. Zudem hat er einen Freund, seinen Klassenkameraden René (Patrick Auffay), mit dem er vertraulich verbunden ist, sowohl bei Vergnügungen als auch bei Schurkereien und existentiellen Nöten. Zuvorderst ist es aber die gleichermaßen bedrohliche wie tröstliche Gewissheit des Jungen, die sich im Verlauf der Geschichte einstellt, dass hier eine ganze Gesellschaft bei der Erziehung ihrer Nachkommen versagt, die sich nach Liebe, Freiheit und Entfaltung sehnen, worin auch die zentrale Aussage von Sie küssten und sie schlugen ihn verortet werden kann.

Betrachtet man diesen seinerzeit international äußerst erfolgreichen Film – 1959 bei den Filmfestspielen von Cannes uraufgeführt und für die Beste Regie sowie mit dem OCIC Preis prämiert und unter anderem mit einer Oscar Nominierung ausgezeichnet – im Zusammenhang mit seiner Wirkungsgeschichte im Rahmen der sich damals formierenden Nouvelle Vague, so markiert Sie küssten und sie schlugen ihn den fruchtbaren Auftakt einer cineastischen Revolution, die formal und inhaltlich meisterhaft mit der Inszenierung dieser Kindheitsreflexion François Truffauts korrespondiert. Hierin manifestiert sich auch die Symbiose zwischen dem vom Kino begeisterten und getrösteten Kind und dem avantgardistischen Filmemacher, dem es gelingt, seine ureigenen Vorstellungen letztlich durchsetzungsfähig zu etablieren.

Wer es wagt, die signifikanten, zuvorderst peinigenden Momente der eigenen Kindheit und Jugend aufrichtig nachzuempfinden, kann in diesem Film einen Schatz finden, der die Gefühle und das Gebaren seines jungen Protagonisten behutsam behandelt und nahe liegende Ironisierungen zugunsten charmanten Humors wohlweislich vermeidet. Hier vermischen sich bedeutsame, sorgfältig transportierte Inhalte mit vor fünfzig Jahren innovativer Filmkunst, deren Ausprägungen noch heute zu bezaubern und zu berühren vermögen. Sie küssten und sie schlugen ihn ist schlichtweg ein großartiges Werk über den Wert der oftmals auch kruden Ungezähmtheit der jungen Generation sowie ein Plädoyer für ihr Recht auf eine geschützte Entwicklung und eigensinnige, freiheitliche Entfaltung, zu der auch Fehler und Irrwege gehören.

Sie küssten und sie schlugen ihn

Die unscharf umrissene Zwielicht-Zone zwischen Kindheit und Erwachsensein, die so lapidar als Pubertät bezeichnet wird, markiert vor allem auch einen Zustand abgründiger Einsamkeit, an die sich der französische Filmtheoretiker und Filmemacher François Truffaut mit seinem Spielfilmdebüt „Sie küssten und sie schlugen ihn“ auf intensive Weise erinnerte.
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