Shalom Italia

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Erinnerungstrip durch die Toskana

Mit der Erinnerung ist es so eine Sache. Man ist davon überzeugt, ein glasklares Bild der Vergangenheit vor Augen zu haben, muss dann aber doch immer wieder feststellen, dass man sich in wichtigen Details geirrt hat. Manchmal, weil die Ereignisse zu lange zurückliegen. Manchmal, weil andere Erzählungen sich als Bilder über das Erlebte gelegt haben. Und manchmal, weil man schlicht zu jung war. So geht es Reuven Anati im Dokumentarfilm Shalom Italia. Vor 70 Jahren flüchtete seine Familie vor der Verfolgung durch die Nazis aus Florenz in die italienischen Wälder. In einer Höhle, die der Vater aus Steinen baute, überlebten sie den Winter. Reuven will diese Höhle wiederfinden, weiß aber nicht mehr, wo genau sie liegt. Die Großeltern und Eltern sind mittlerweile verstorben. Also überredet er seine beiden älteren Brüder Emmanuel und Andrea, mit ihm an die Orte ihrer Jugend zu reisen und den einstigen Unterschlupf zu suchen.
Die Höhle fungiert hier jedoch eher als MacGuffin. Sie treibt die Brüder voran, hält sie zusammen und lässt sie diesen Roadtrip durch die Toskana durchstehen; eigentlich geht es in Shalom Italia aber um ihre Erinnerungen, um die Geschichten, die sie seit Jahrzehnten niemandem erzählt haben. Besonders Emmanuel, dem ältesten der drei Brüder, fällt die Reise sichtlich schwer. Ganz im Gegensatz zu Andrea, der immer wieder darüber spricht, wie wunderbar er die Kindheit auf dem italienischen Dorf fand. Die Flucht in den Wald war für den damals 11-Jährigen ein großes Abenteuer, an dem er mit leuchtenden Kinderaugen teilhatte. „Ich hatte Spaß während der Shoah“, sagt er mit verschmitztem Grinsen. Für Emmanuel jedoch sind nur Leid und Ungewissheit mit jener Zeit verbunden. „Du warst ein Kind, ich aber wurde viel zu schnell erwachsen“, wirft er irgendwann seinem Bruder an den Kopf. Trotzdem setzen die Drei ihre Suche fort und stellen sich damit ein letztes Mal den Gespenstern ihrer Vergangenheit.

Die israelische Filmemacherin Tamar Tal Anati hat sich mit Shalom Italia auf ein schwieriges Gebiet begeben. Sie drehte einen Dokumentarfilm über ihre eigene Familie. Oder um genauer zu sein, die Familie ihres Mannes. Bei einem gemeinsamen Abendessen eröffnete Reuven, dass er gerade Flugtickets für sich und seine Brüder nach Italien gekauft habe, um die Höhle zu suchen. „An diesem Punkt wusste ich sofort, dass dies mein nächster Film wird“, sagte Anati in einem Interview. Wie aber hält man kritische Distanz zum Protagonisten, wenn der der eigene Verwandte ist? Gelingt es, seine Aussagen überhaupt zu hinterfragen und von mehreren Seiten zu beleuchten? Steckt man nicht zwangsläufig viel zu tief in der Geschichte?

Anati begegnet diesen Herausforderungen sehr elegant. Da ist zum einen die Kamera, die immer Abstand hält, den Protagonisten nie zu nah kommt, ihnen wie ein stummer Beobachter mit einigen Metern Entfernung durch die Wälder folgt und dabei nicht kommentiert. Wirklich nah kommt man Andrea, Reuven und Emmanuel, wenn sie von ihrer Kindheit erzählen. Dann zoomt die Kamera heran, zeigt den Erinnernden im Profil, wie er aus dem Fenster schaut. Auf der Scheibe tauchen kurz Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus der damaligen Zeit auf. Die Erzählung des Erinnernden liegt als Voice-Over über dem Bild – als würde man sich gerade im Kopf des Erzählenden befinden und sich mit ihm in seinen Erinnerungen verlieren.

Dass diese jedoch keine unantastbare Wahrheit darstellen, zeigt Anati auch. Denn im Gespräch beim Abendessen oder während der Autofahrt merken die drei Brüder selbst, dass Erinnerungen sehr fragil sind und dass sie die gleichen Ereignisse völlig unterschiedlich im Gedächtnis behalten haben.

Da ist zum Beispiel die Geschichte, dass eine Frau aus dem Dorf den Goldschmuck der Familie versteckt hat und davon Lebensmittel für sie besorgte, als sie schon in der Höhle überwinterten. Emmanuel schwört jedoch, dass es keinen Goldschmuck gegeben habe, den man auf der Flucht mitgenommen hätte. Nur Bargeld habe der Vater vom Verkauf seines Geschäfts dabeigehabt und damit habe er bei den Bauern der Umgebung Essen gekauft. Er gerät darüber fast in Streit mit Reuven. Erst als die Brüder die alte Frau im Dorf tatsächlich treffen und sie ihnen sogar das Versteck für die Wertsachen zeigt, wird klar, dass die Geschichte keine Legende ist, sondern der Wahrheit entspricht.

Dies ist der vielleicht eindrucksvollste Punkt, den Shalom Italia aufzeigt: Auch im faschistischen Italien gab es Zivilcourage und Menschen, die Juden auf der Flucht geholfen haben. Menschen, die unter Gefahr für das eigene Leben dafür gesorgt haben, dass eine Familie mit drei Söhnen einen Winter in einer Höhle überleben kann. In Zeiten, da Diskriminierung und rechte Bewegungen wieder auf dem Vormarsch sind, kann es gar nicht genug Filme geben, die daran erinnern.

Shalom Italia

Mit der Erinnerung ist es so eine Sache. Man ist davon überzeugt, ein glasklares Bild der Vergangenheit vor Augen zu haben, muss dann aber doch immer wieder feststellen, dass man sich in wichtigen Details geirrt hat. Manchmal, weil die Ereignisse zu lange zurückliegen. Manchmal, weil andere Erzählungen sich als Bilder über das Erlebte gelegt haben. Und manchmal, weil man schlicht zu jung war. So geht es Reuven Anati im Dokumentarfilm „Shalom Italia“.
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