Remainder (2016)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Ein Rollkoffer und achteinhalb Millionen

Ein Mindfuck-Film. Wir sitzen da und versuchen zu begreifen, was vor sich geht, wissen nur, dass alles sehr verdreht und verstörend ist und irgendwie faszinierend. Uns geht es wie dem jungen Mann, auferstanden aus dem Koma und ausgeschlossen aus der Welt. Remainder dreht sich um die Welt, wie sie ist, wie man sie begreifen kann und wie man sie ergreifen, schütteln und würgen kann. Videokünstler Omer Fast hat in seinem ersten Spielfilm den Debütroman von Tom McCarthy verfilmt: zusammen mit dem Autor kreierte er ein riesiges Mindmap-Plakat, aus dem er dann das Drehbuch destillierte.

Etwas fällt vom Himmel, zerschlägt das schöne Glas eines Hochhauses und trifft den namenlosen jungen Mann. Eine dunkelhäutige Frau sieht zu. Ein schwarzer Rollkoffer steht herrenlos herum. Große Bilder, viele Indizien, Flashbacks aus der Vergangenheit. Doch aus Fragmenten lässt sich noch keine Welt bauen, in der man leben kann. Tom Sturridge spielt den traumatisierten Helden, der sich etwas konzipieren muss, auf dem er stehen kann. Auf seinen wackligen Beinen, mit Krückstock und Stützprothese, hinfällig wie ein alter Opa. Sturridge zuzusehen ist packend: Wie er auf ganz verlorenem Posten durch die Welt schwankt, wie er versucht, sich anzupassen, wie er immer mehr entgleitet, wie ihn immer mehr irgendwelche Assoziationen einfangen, die nichts bedeuten mögen, die vielleicht nur Traum sind, Imagination, Unwirklichkeit. Die aber zu seiner Wirklichkeit werden. Zu seiner Obsession.
Achteinhalb Millionen Pfund werden ihm als Entschädigung zugesprochen, als Schweigegeld: Er muss den Unfall vergessen. Warum achteinhalb, ist seine erste Frage, warum keine glatte acht oder neun? Und: Er soll vergessen, dass er nicht mehr laufen, nicht mehr essen, sich nicht mehr die Zähne putzen kann? Vergessen, das kann er nicht. Auch wenn er nicht mehr weiß, was Erinnerung ist. Was er weiß – oder was er herausfindet: Geld kann alles schaffen. Und vertrauen kann er keinem.

Er kennt Namen von Menschen, denen er zum ersten Mal begegnet. Dialoge mit seiner Freundin – die sich vielleicht nur als diese ausgibt, wer weiß? – kennt er auch schon. Er lebt im permanenten Déjà-vu. Und beschließt, es zu realisieren. Ein gewitzter Immobilienmakler wird sein Produzent bei etwas, das vielleicht als Theater- oder Filmproduktion durchgehen könnte, wäre unserem Mann nicht todernst und überhaupt nicht spielerisch zumute. Ein Haus, das er im Traum gesehen hat, lässt er kaufen. Die Mieter werden rausgeschmissen und ersetzt durch die Gestalten seiner Fantasie. Eine alte Frau muss ständig Leber kochen; ein Junge die Hand ausstrecken. Auf dem Dach klettern Katzen, ein Ehepaar tanzt. Ein Komponist muss komponieren, am besten Chopin. Dass dessen Werke schon einmal komponiert wurden, schert nicht: noch einmal komponieren. Und wenn die Katzen vom Dach fallen: neue anschaffen, aber keinesfalls festbinden; das passt nicht in seine Bilderwelt.

Unser Held wird zum obsessiven Großarschloch, das alle Welt tyrannisiert. Gentrifizierung und Postkolonialismus hatte Omer Fast im Sinn, als er seinen Film inszenierte: Das Herumspringenlassen von Menschen aus der erhöhten Position dessen, der es sich leisten kann. Wenn es Tote gibt, muss man eben jemanden ersetzen. Und wenn sich der Traum ändert, muss man die Wirklichkeit anpassen. In seinem letzten Viertel entwickelt sich wie aus dem Nichts ein veritables Heistmovie, denn plötzlich wird ein Banküberfall urwichtig; das Haus hat ihm eh nichts gebracht, stundenlang müssen seine Darsteller in der Bewegung verharren, während er fernsieht. Zudem gibt es da die beiden sinistren Männer, die ihm folgen und dabei gerne auch über Leichen gehen. Und da ist dieser Rollkoffer vom Anfang …

Ob alles logisch zusammenpasst, kann man vielleicht entscheiden, wenn man den Film mindestens zweimal gesehen und lang und breit diskutiert hat. Dass er fasziniert, dass er nie langweilt, dass er einen mitnimmt auf eine verwirrende Reise, das erkennt man sofort. Und man fängt dann am liebsten gleich von vorne an.
 

Remainder (2016)

Ein Mindfuck-Film. Wir sitzen da und versuchen zu begreifen, was vor sich geht, wissen nur, dass alles sehr verdreht und verstörend ist und irgendwie faszinierend. Uns geht es wie dem jungen Mann, auferstanden aus dem Koma und ausgeschlossen aus der Welt. „Remainder“ dreht sich um die Welt, wie sie ist, wie man sie begreifen kann und wie man sie ergreifen, schütteln und würgen kann.

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