Neuland (2013)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Alles auf Anfang

Das Thema Zuwanderung ist allseits präsent. Angesichts der Demonstrationen selbsternannter patriotischer Europäer und der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte in Tröglitz und anderswo stellt sich die Frage, wie es um die deutsche Willkommenskultur tatsächlich bestellt ist. Ein Dokumentarfilm aus der Schweiz zeigt einen Ausweg auf.

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Christian Zingg steht auf einem Pausenhof. Neugierig blicken seine zukünftigen Schüler auf den hochaufgeschossenen Mann. Laut liest der Lehrer die Namen der Klasse 1b vor. Einige grinsen ob der ungewohnten Aussprache. Auch im Hochdeutschen ist Zinggs baseldütscher Einschlag deutlich zu vernehmen. „Wenn Sie etwas nicht verstehen, machen Sie so“, erklärt der Pädagoge seinen Zuhörern und schüttelt dabei den Kopf. „Sie sind hier, weil Sie noch nicht verstehen.“ Zingg unterrichtet eine Integrationsklasse für nicht mehr schulpflichtige Jugendliche, die neu in die Schweiz eingereist sind. Seine Schüler kommen aus Afghanistan, Serbien und der Türkei, aus der Dominikanischen Republik, Eritrea, Mazedonien oder dem Kosovo. In den kommenden zwei Jahren wird Zingg den Jugendlichen nicht nur die deutsche Sprache beibringen, sondern sie auch auf eine Berufsausbildung vorbereiten. Regisseurin Anna Thommen hat die Klasse dabei begleitet.

Neuland wirft einen intimen Blick auf das Thema Integration. Mit mehreren Kameras ist Thommen nah dran am Geschehen. Sie folgt den Jugendlichen auch außerhalb des geschützten Klassenzimmers, zeigt Telefonate in die alte Heimat oder erste Gehversuche im Vereins- und Berufsleben. Im Verlauf des Films, der zeitlich in sieben Blöcke geteilt ist, kristallisieren sich vier Protagonisten heraus: Neben Zingg sind dies Ehsanullah Habibi aus Afghanistan und die albanischen Geschwister Nazlije und Ismail Aliji. Deren Gefühle und Gedanken vermittelt Neuland durch Gespräche, die die Jugendlichen miteinander führen, durch Gedichtzeilen, die sie im Unterricht in ihre Hefte schreiben, und durch den Ausdruck auf ihren Gesichtern.
Auf einen einordnenden Kommentar, auf Erklärungen oder Nachfragen verzichtet Neuland.

Ganz beiläufig erzählt Anna Thommens Dokumentarfilm auf diese Weise auch etwas über das Schicksal der Neuankömmlinge. Als die Schüler an einer großen Weltkarte ihren Weg in die Schweiz mit Stecknadeln und Bindfäden nachzeichnen, dient das primär dem Spracherwerb, sekundär dem gegenseitigen Kennenlernen. Es führt Mitschülern wie Zuschauern aber auch vor Augen, dass die meisten Jugendlichen ihrer Heimat nicht freiwillig den Rücken gekehrt haben. Ehsanullah etwa hat eine Odyssee hinter sich. Aus Kabul ist er über Pakistan, den Iran, die Türkei, Italien und Frankreich schließlich in die Schweiz gelangt. Einen Flieger konnte er nicht besteigen, da er keinen Pass besitzt. Also bahnte sich Ehsanullah mit dem Auto, dem Bus, zu Fuß, in einem Schlauchboot über das Mittelmeer und mit dem Zug seinen Weg nach Basel. Ein Jahr hat das gedauert, 20.000 US-Dollar hat es ihn gekostet. 8.000 davon muss er schleunigst zurückzahlen, da seine Gläubiger seinen Eltern andernfalls Grund und Boden wegnehmen.

Ein anderes Mal üben die Schüler, einen Lebenslauf zu verfassen. An einem langen, mit Kreide an die Tafel gezeichneten Zeitstrahl tragen sie wichtige Stationen ihres bisherigen Werdegangs ein. Und so erfährt die Klasse erneut ganz nebenbei, dass Nazlije und Ismail nach dem Tod ihrer Mutter in die Schweiz gekommen sind, um bei ihrem Vater und der Stiefmutter zu leben. Die junge Albanerin ist sichtlich angefasst, ringt mit den Tränen. Ihr Lehrer weiß nicht recht, wie er darauf reagieren soll. Hier stößt selbst der stoische Pädagoge an seine Grenzen. Und an dieser Stelle auch Thommens Dokumentation.

Gern hätte der Zuschauer erfahren, was in solchen Situationen in Christian Zingg vorgeht. Die strenge Form verwehrt diese Einblicke jedoch. Da Thommen nicht nachfragt oder ihren Protagonisten die Möglichkeit bietet, die Kamera mit ihren Gedanken direkt zu adressieren, bleibt das Innenleben des Lehrers größtenteils verborgen. Nur ein einziges Mal offenbart er einem Gespräch mit einem Kollegen seine Ratlosigkeit. Der Dialog mit seinen Schülern ist hingegen mehr von Zinggs Sachlichkeit denn von seinen Emotionen bestimmt. Was Neuland jedoch zeigt, ist ein engagierter Lehrer, der keinen seiner Schüler aufgibt. Und die Schüler wissen das zu schätzen.

Trotz Zinggs unermüdlichen Engagements ist Thommens Film kein Integrationsmärchen, in dem alles gelingt. Nicht alle Schüler legen die gleiche Motivation an den Tag. Auch das zeigt Neuland ebenso klar wie die Rückschläge und Enttäuschungen, die die begabten und ehrgeizigen unter ihnen verkraften müssen. Gerade diese Objektivität ist das große Plus. Neuland zeigt diese Jugendlichen ungefiltert mit all ihren Sehnsüchten, Sorgen und Ängsten und erteilt gerade dadurch allen Vorurteilen eine Absage. Thommens Film ist ein Plädoyer für einen menschlichen Umgang mit allen Neuankömmlingen, auch, weil sie der Hilfe derer bedürfen, die (sich) diese Hilfe leisten können. Wäre jeder ein bisschen mehr wie Christian Zingg, Deutschland müsste nicht länger über eine Willkommenskultur diskutieren.

(Falk Straub)
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Zwei Jahre lang, ab dem Sommer 2010, begleitete Anna Thommen gemeinsam mit ihrer Kamerafrau Gabriela Betschart eine Integrations- und Berufswahlklasse (IBK) in Basel. Das Ergebnis ihrer Beobachtung – der Dokumentarfilm Neuland – wurde schon auf zahlreichen Festivals präsentiert und, völlig zu Recht, vielfach ausgezeichnet. Thommen zeigt Problematiken auf, ohne ihr Publikum belehren zu wollen; sie erzeugt Nähe, ohne aufdringlich zu wirken – und sie weiß die jeweilige Situation sowie das Denken und Fühlen ihrer Protagonist_innen zu vermitteln, ohne dabei auf Interviewpassagen oder Off-Kommentare zurückgreifen zu müssen.

Die jungen Menschen, die zu Beginn des zweijährigen Integrationsprozesses durch das IBK-Gebäude geführt werden, haben bereits eine weite, oft gefährliche Reise hinter sich. Per Flugzeug, Zug, Bus, Auto oder (Schlauch-)Boot kamen sie aus Serbien, Afghanistan und anderen Staaten in die Schweiz nach Basel. Sie haben ihre Heimat nicht freiwillig verlassen, sondern sahen sich zur Flucht beziehungsweise zum Aufbruch gezwungen. In der IBK sollen sie nun die Sprache erlernen und auf das Berufsleben vorbereitet werden; im Idealfall folgt auf den Besuch der IBK der Start in die Ausbildung – weshalb es in sogenannten „Schnupperwochen“ auch praktische Erfahrungen zu sammeln gilt.

Ehe die 1980 in Basel geborene Anna Thommen 2005 beschloss, Film zu studieren, hatte sie zwei Jahre lang als Lehrerin gearbeitet. Ihr Langfilmdebüt Neuland profitiert zweifelsohne von beiden Fertigkeiten: Zum einen erweist sich Thommen als begabte Dramaturgin, die aus dem Material der langen Drehzeit einen spannungsreichen 90-Minüter gemacht hat; zum anderen lässt das Agieren der Schüler_innen vor der Kamera vermuten, dass es Thommen gelungen ist, das Vertrauen der jungen Leute zu gewinnen. Ein paar der Migrant_innen, die sich auf der Berufs- und auch der Identitätssuche befinden, werden näher vorgestellt – so etwa Ehsanullah Habibi aus Afghanistan, der sein Land als 16-Jähriger verließ. Die Schulden, die durch seine kostenintensive Flucht entstanden sind, muss er möglichst rasch abbezahlen, da seiner Familie sonst der Verlust ihres Besitzes droht. Die Eingliederung im „Neuland“ wird also durch Lasten, die die alte Heimat betreffen, noch zusätzlich erschwert.

Das Programm der IBK wird durch interessante Momente veranschaulicht – wenn zum Beispiel Telefongespräche mit potenziellen Arbeitgebern zu Übungszwecken simuliert werden oder wenn die Jugendlichen auf einem Zeitstrahl an der Wandtafel alle einschneidenden Etappen ihres bisherigen Lebens angeben sollen. „Neues Kapitel CH“, trägt die Albanerin Nazlije Aliji als aktuelle Etappe ein. Sie wuchs mit ihrem jüngeren Bruder Ismail bei der Mutter in Serbien auf; nach dem Tod der Mutter zogen die Geschwister zum Vater, der schon seit vielen Jahren in der Schweiz wohnt.

Zum Gelingen des Films trägt, ganz entscheidend, noch ein weiterer Protagonist bei – nämlich der engagierte Klassenlehrer Christian Zingg. Dieser hilft seinen Schützlingen, Selbstbewusstsein zu entwickeln (beziehungsweise es in der neuen Umgebung zurückzuerlangen); er will – wie er an einer Stelle sagt – verhindern, dass die jungen Leute in ihr „Unglück rennen“. Der Humor des Pädagogen sowie dessen ernsthafte Anteilnahme an den Fortschritten und Rückschlägen der Migrant_innen sind mitverantwortlich dafür, dass Neuland zu einem sehenswerten Werk der Empathie wird.
 

Neuland (2013)

Das Thema Zuwanderung ist allseits präsent. Angesichts der Demonstrationen selbsternannter patriotischer Europäer und der Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte in Tröglitz und anderswo stellt sich die Frage, wie es um die deutsche Willkommenskultur tatsächlich bestellt ist. Ein Dokumentarfilm aus der Schweiz zeigt einen Ausweg auf.

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