Moonlight (2016)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Poetische, unerträgliche Intimität

Niemand hat diesen Film kommen sehen. Aber direkt nach seiner internationalen Premiere beim Internationalen Filmfest Toronto begann das Gemurmel, das laute Staunen und Weiterempfehlen von Barry Jenkins Ausnahmewerk Moonlight. Exzeptionell ist hier nicht nur die Art des Bekanntwerdens, sondern der Film selbst, behandelt er doch auf phänomenal feinfühlige Art ein Thema, das sonst nie gezeigt, geschweige denn so detailliert porträtiert wird: queere afroamerikanische Erfahrungswelten. Das mag nach einer sehr kleinen Welt klingen (wenn man aus dem Mainstream herausblickt), doch die Geschichte, die sich hier entfaltet, ist so einzigartig wie universell relevant und wird zu jedem einzelnen Menschen sprechen, der/die sich aus Angst und/oder Zwängen nicht so entfalten konnten, wie er/sie wollte.

Jenkins erzählt in einem Triptychon vom Erwachsenwerden des Jungen Chiron. Im ersten Teil ist er ein Kind, im zweiten ein Teenager und im letzten ein junger erwachsener Mann. Das klingt recht einfach und konventionell, ein wenig wie Boyhood, doch was dieser Film hier zu erforschen vermag, ist nichts anderes als die Geburt und das Formen einer menschlichen Seele und einer Persönlichkeit, mit einem Detailreichtum und einer Genauigkeit, die einerseits erstaunt und andererseits schwer erschüttert und emotionalisiert. Hier wird ein Junge zum Mann und dieser Mann ist Individuum und zugleich geformt durch seine Umgebung, geformt durch seine Armut, sein Heranwachsen in einer hypermaskulinen Gesellschaft, geformt durch seine Hautfarbe. Sich anzupassen, irgendwie dazugehören zur Community ist überlebenswichtig. Aber Chiron (Alex R. Hibbert), der „Little“ genannt wird, weil er klein und schmächtig ist, passt eben nicht. Schon als Kind wird er als „Schwuchtel“ beschimpft und von den anderen gejagt, die ihn bestrafen wollen dafür, dass er nicht hineinpasst in diese Kindergesellschaft, die die großen Gangsterjungs imitiert. Dabei begegnet Little dann auch eben solch einem Gangster. Juan (Mahershala Ali) ist all das, was man sein muss. Er ist der lokale Drogenboss, er hat die richtigen Klamotten, den aufgepumpten Körper, die korrekte harte Attitüde. Doch all das ist nur Verkleidung. Juan ist ein liebevoller, großherziger Mann, der Little unter seine Fittiche nimmt. Zusammen mit seiner Freundin Teresa (Janelle Monáe) kümmert er sich um den Jungen, dessen alleinerziehende Mutter Paula (Naomie Harris) zunehmend im Drogensumpf versinkt. Und ja, es sind genau die Drogen, die Juan verkauft. So bedingt der eine das Leid des anderen und beschwört eine weitere Generation von Jungs hervor, die so sein werden wie er. Doch Juan versucht Little auch zu zeigen, dass es okay ist, queer zu sein. In einer Szene, so liebevoll gestaltet, dass es einem das Herz zerreißt, nimmt er den gepeinigten, wortkargen Jungen mit zum Baden ans Meer und zeigt ihm, wie man schwimmt.

Es gibt indes wenig Entrinnen aus der Enge und dem Zusammenarbeiten von Armut, Drogen, Rassismus und Männlichkeit. Little, der im zweiten Teil wenigstens seinen Namen Chiron (Ashton Sanders) zurück hat, kann sich den Gesetzmäßigkeiten der Straße kaum erwehren. Doch er hat inzwischen einen guten Freund: Kevin (Jharrell Jerome) ist alles, was er selbst nicht sein kann. Kevin passt, Kevin vögelt Mädchen im Schultreppenhaus. Chiron aber ist und bleibt schwul und dies auszuleben, käme einem Todesurteil gleich in einer Welt voller Männer, die durch ihre Umstände schon so sehr unter Druck stehen und deren Männlichkeitsgehabe über Leben und Tod, über Essen oder Hungern entscheidet.

Moonlight ist ein dreiteiliges Poem voller Anmut und Ehrlichkeit. Jeder Teil funktioniert für sich allein, ist abgeschlossen und perfekt zu Ende erzählt. Zusammen allerdings ergeben sie eine Reise durch das Leben eines Mannes, der am Ende Black (Trevante Rhodes) heißt und in seiner Gesellschaft angekommen scheint. Doch genau wie sein mythologischer Namensvetter Cheiron, ein Zentaur, der unsterblich war, jedoch von einem Giftpfeil getroffen wurde und so auf alle Ewigkeit eine unsäglich schmerzende Wunde mit sich trug, gelingt es Chiron/Black nicht, sich selbst komplett zu verleugnen. Schuld daran ist Kevin, der ihm diese Wunde schlug, eine Wunde geboren aus Liebe und Verlangen. Und Kevin ist es auch, den Black wiedersehen muss, um seinen Schmerz zu stillen.

Barry Jenkins delikate Erzählung wird perfekt unterstützt von der Ästhetik des Filmes. Ganz wie die Erzählung, in der jeder Ort, jede Handlung, jeder Figurenname durchdacht und mit Bedeutung angefüllt ist, hat auch jede ästhetische Entscheidung hier einen Grund. Zusammen mit Kameramann James Laxton entschied sich Jenkins, an Originalschauplätzen in Miami zu drehen (Jenkins wuchs dort selbst auf, hatte ähnliche Erfahrungen wie Chiron und ebenfalls eine Mutter, die drogenabhängig war). Doch um einen dokumentarischen Look zu vermeiden, drehten die beiden in Cinemascope und mit einer Digitalkamera, die die Hauttöne und -variationen besser einfing. Der Unterschied ist absolut erkennbar. Moonlight zeigt schwarze Haut in all ihren Nuancen und stets in einem Licht und mit verstärkter Sättigung und Kontrast, um diese wahrlich auszustellen in all ihren Facetten. Der Unterschied von diesem Film zu vielen anderen, in denen in der Produktion nicht so viel Wert darauf gelegt wird, schwarze Körper detailgetreu und liebevoll einzufangen, ist eklatant. Dabei blieb es aber nicht. Alle drei Teile haben ihre eigene Farbpalette: der erste betont die Hautfarben, der zweite addiert einen bläulichen Ton, der an Juans Geschichte erinnert, dass schwarze Jungs im Mondschein blau schimmern. Der dritte Teil ist rötlich eingefärbt.

Hinzu kommt die Kamera, die oft mit einem sehr kurzen Schärfebereich nur die Menschen und Dinge erfasst, die ganz nah an der Kamera sind, fast so als wäre sie kurzsichtig und könnte die unermessliche Weite der Welt niemals erfassen. Eine wunderbare Metapher für die Lebensumstände Chirons, die nie zulassen, auch nur über die Zukunft und deren Möglichkeiten außerhalb des kleinen Ghettos nachzudenken. Es existiert nur das, was genau vor einem steht, der Rest ist unerreichbar, unscharf, fast schon nicht mehr real. Und noch mehr: Der Film arbeitet mit Schweigen, es fehlen oft die Worte um auszudrücken, was man sagen will. Wie auch die Frage beantworten, die Moonlight immer wieder stellt? Was kann man schon auf „Wer bist du eigentlich, Chiron?“ sagen, wenn die Antwort nicht in, sondern zwischen den Bildern, zwischen den einzelnen Teilen liegt und auch nicht aus deren Summe allein entstehen kann?

Es sind am Ende die Angebote, die der Film seinem Publikum macht, die hier die Geschichte nach Hause tragen. Und diese wird nicht nur Chirons sein, sondern für jeden aus dem Publikum auch eine ganz eigene, aus den persönlichen Wunden entstandene, die sich in Jenkins Bilderwelten ebenfalls erinnern und erspüren lassen. Und genau dies macht aus der individuellen Geschichte auch eine ganz persönliche – welch Meisterwerk, wenn ein Film so etwas schafft.
 

Moonlight (2016)

Niemand hat diesen Film kommen sehen. Aber direkt nach seiner internationalen Premiere beim Internationalen Filmfest Toronto begann das Gemurmel, das laute Staunen und Weiterempfehlen von Barry Jenkins Ausnahmewerk „Moonlight“.

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