Menachem & Fred

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Fremde Heimat Hoffenheim

In der Zwischenzeit würde solch eine Szene wohl nicht mehr passieren, wie sie sich gleich in zweifacher Ausführung in diesem Film findet: Als Menachem Mayer und Fred Raymes in Deutschland gelandet sind und an einem Informationsschalter nach der besten Verbindung nach Hoffenheim fragen, sind die Reaktionen in beiden Fällen die gleichen: „Wohin?“ Heutzutage weiß jeder, wo Hoffenheim liegt. Spätestens nach dem furiosen Start der TSG 1899 Hoffenheim in der Hinrunde der vergangenen Bundesliga-Saison weiß man um die geographische Verortung des Dorfes im Kraichgau. Und um die tatkräftige Unterstützung des Mäzens Dietmar Hopp, der mit enormen finanziellen Zuwendungen aus dem Verein seiner Jugend einen (meistens) vorbildlichen Profi-Fußballclub formte.
Zwar geht es auch in Menachem & Fred um Dietmar Hopp, doch im Mittelpunkt dieser filmischen Reise nach Hoffenheim und anderswohin stehen zwei Brüder, deren Heimat vor vielen Jahrzehnten Hoffenheim war: Heinz und Manfred Mayer hießen die beiden Jungen, die als Söhne jüdischer Eltern im Kraichgau geboren wurden. Als mit der so genannten Reichskristallnacht die Unterdrückung der jüdischen Bevölkerung in offene Verfolgung umschlug und die Familie Mayer von SA-Männern aus ihrer Wohnung im ersten Stock der Synagoge von Hoffenheim geworfen wurden, waren die beiden Knaben gerade mal neun und sechs Jahre alt. Nachdem sie zunächst bei Verwandten untergekommen waren, folgte 1940 die Deportation in das Lager Gurs in Südfrankreich, von dem aus die Eltern von Heinz und Fred ihre Kinder in ein französisches Waisenhaus schickten, bevor sie selbst nach Auschwitz gebracht wurden. Es war ein Abschied für immer, auch wenn dank der Hilfe des Roten Kreuzes einige Briefe den Weg zu den beiden Kindern fanden.

Nach dem Ende des Krieges trennten sich die Wege der beiden Brüder: Manfred zog es in die USA, wo er seinen Namen in Frederick Raymes umänderte und seine jüdische Herkunft verbarg. Heinz hingegen zog es nach Palästina, er nannte sich von nun an Menachem Mayer und wurde zu einem strenggläubigen orthodoxen Juden.

Nachdem die beiden Brüder jahrzehntelang keinen Kontakt mehr miteinander gehabt hatten, fand Fred bei einem Umzug die Briefe seiner Eltern aus dem Lager und sandte diese an Menachem. Aus dieser ersten zögerlichen Kontaktaufnahme entstand schließlich via Email eine ausführlichere Korrespondenz und ein Buch (auf deutsch erschienen unter dem Titel: Aus Hoffenheim deportiert. Menachem und Fred. Der Weg zweier jüdischer Brüder). Trotz der Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit aber waren Menachem und Fred immer noch nicht gerüstet für ein Wiedersehen nach so vielen Jahren. Das kommt erst dank der beiden israelischen Filmemacherinnen Ofra Tevet und Ronit Kertsner und auf Vermittlung der Geschwister Rüdiger, Carola und Dietmar Hopp zustande, deren Vater einst als SA-Truppführer bei der Vertreibung der Familie Mayer aus ihrem Haus in Hoffenheim mitwirkte.

Der Film begleitet die beiden Brüder bei ihren Treffen und ihrer gemeinsamen Spurensuche, die sie nach Hoffenheim führt und in die Gegend des Lagers Gurs, das heute überwuchert ist von Bäumen und Strauchwerk – gerade so, als wolle man über die unrühmliche Vergangenheit des Ortes nicht nur Gras, sondern lieber einen ganzen Wald wachsen lassen. Wir sehen Fred in Florida, wo er heute mit seiner zweiten Frau lebt. Und Menachem, der in Jerusalem eine neue Heimat gefunden hat. Und schließlich in Heidelberg, wo es zu einer ganz besonderen Art der Familienzusammenführung kommt.

Überhaupt ist „Heimat“ das Schlüsselwort in diesem Film: Auch wenn Fred und Menachem in anderen Ländern heimisch geworden sind – dass sie ihre Heimat verloren haben, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass sie beide ihre gemeinsame Sprache verloren (oder verdrängt) haben. „Muttersprache“ und „Vaterland“ – wer diesen Film gesehen und das Schicksal dieser beiden Brüder verfolgt hat, der verknüpft diese Begriffe von nun an mit ganz neuen Assoziationen.

Obwohl Menachem und Fred das Beste aus dieser unglaublichen Kindheit und Jugend gemacht haben, sind sie heute immer noch nicht darüber hinweggekommen. Weil man über solch ein Schicksal nicht hinwegkommen kann. Die Lebenswege, die sie gewählt haben, gingen in entgegengesetzte Richtungen, doch sie verfolgten das gleiche Ziel: Mit dem Erlebten fertig zu werden. Schön, dass sich in diesem Film die Lebenswege, die so jäh auseinander gerissen wurden, wieder vereinigen. Auch wenn der Prozess der Annäherung zwischen den Brüdern schmerzhaft und immer noch geprägt von Schuldgefühlen und Trauer ist.

Die Bemühungen der Geschwister Hopp um die deutsche Veröffentlichung des Buches, um den Wiederaufbau von Synagogen und die Zusammenführung der beiden verstreuten Familienzweige der Mayers aus Hoffenheim können vergangenes Unrecht nicht ungeschehen machen. Das wissen alle Beteiligten ganz genau. Und manches Familienmitglied fühlt sich gar ein wenig unbehaglich bei den Begegnungen mit den Kindern eines Täters. Was sie aber vermögen ist, ein Zeichen zu setzen und ein Beispiel zu geben. Dafür, dass man sich – auch wenn es schmerzt – dem Vermächtnis der Vergangenheit stellt. Dies ist eine Aufgabe, der sich längst nicht alle Unternehmen und Personen, deren Vorgänger und Verwandte Schuld auf sich geladen haben, stellen. Es wäre höchste Zeit dazu. Denn die Holocaust-Überlebenden sind allesamt jenseits der Siebzig. Und viele von ihnen, die Zeugnis ablegen könnten, sind nicht mehr unter uns.

Auch wenn, wie sich im Film andeutet, manche (vielleicht sind es ja auch viele) Deutsche meinen, es sei an der Zeit, die Monströsitäten des Holocaust doch endlich einmal zu vergessen: Genau dies wäre ein schwerer Fehler. Menachem & Fred jedenfalls ist einer jener Filme, die gegen dieses Vergessen ankämpfen. Und das gibt ihm – jenseits von kleineren Schnitzern wie einer manchmal allzu bedächtigen Voice-Over-Stimme und einer bisweilen zu emotionalisierenden (aber wunderschönen) Filmmusik von Zbigniew Preisner – seine ganz besondere Qualität. Denn Unrecht, Vertreibung und Rassismus sind nicht auf die Vergangenheit beschränkt, sondern eine bis heute andauernde Bedrohung dieser Gesellschaft, jeder Gesellschaft.

Menachem & Fred

In der Zwischenzeit würde solch eine Szene wohl nicht mehr passieren, wie sie sich gleich in zweifacher Ausführung in diesem Film findet: Als Menachem Mayer und Fred Raymes in Deutschland gelandet sind und an einem Informationsschalter nach der besten Verbindung nach Hoffenheim fragen, sind die Reaktionen in beiden Fällen die gleichen: „Wohin?“
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