Men & Chicken (2015)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Fünf Brüder und eine Menge Nudelhölzer

„Dieses ist die Geschichte von ein paar Brüdern, denen Mutter Natur nicht in die Karten gespielt hat. Ehrlich gesagt, haben sie überhaupt keine Karten bekommen“, flüstert eine kindliche Erzählstimme zu Beginn des Films Men & Chicken von Anders Thomas Jensen. Dazu sind verklärt-verschwommen zwei Kinder zu sehen, vermutlich Jungs, die im goldenen Sonnenlicht Eier in einen Korb legen und einen Gang hinuntergehen. Es folgt ein Schnitt, und der Film landet in der Gegenwart. Gabriel (David Dencik) besucht seinen sterbenskranken Vater im Krankenhaus, dieser fragt nach Gabriels Bruder Elias (Mads Mikkelsen), ehe Elias jedoch eintrifft, verstirbt der Vater. In seinen letzten Atemzügen hat er Gabriel auf eine Videokassette hingewiesen, die er sich nach seinem Tod mit seinem Bruder ansehen soll.

Auf diese Weise erfahren die Brüder, dass sie gar nicht die leiblichen Söhne von ihm sind, sondern vielmehr von dem Wissenschaftler Evelio Thanatos und verschiedenen Müttern abstammen. Gabriel ist elektrisiert: Schon immer dachte er, dass sein Bruder und er zu wenig gemeinsam haben. Während er an der Universität Evolutionspsychologie und Philosophie lehrt, beschäftigt sich Elias hauptsächlich mit Masturbieren, außerdem ist er äußerst unkontrolliert. Darüber hinaus hat Gabriel ein Buch über die Suche nach dem Sinn des Lebens geschrieben, in der die Suche nach der Herkunft eine wichtige Rolle spielt. Also machen sich die Brüder auf den Weg nach Ork, lernen schnell die meisten der dortigen vierzig Bewohner kennen und stoßen auf ihre Halbbrüder Franz (Søren Malling), Gregor (Nikolaj Lie Kaas) und Josef (Nicolas Bro). Die Begrüßung ist wenig herzlich, vielmehr werden sie mit ausgestopften Tieren attackiert und vom Grundstück vertrieben. Die Ähnlichkeit ist indes offensichtlich: Sie haben alle die gleiche Gaumenspalte. Außerdem sind sie – wie Elias – aufbrausend, schlagen gerne zu und hassen es, unterbrochen zu werden. Nach und nach nähern sich dann insbesondere Elias und seine drei Brüder an. Sie verstehen ihn, außerdem fühlt er sich auf dem verwahrlosten Anwesen durchaus wohl. Plötzlich ist Gabriel der Außenseiter, außerdem gefällt es Franz gar nicht, dass er so interessiert daran ist, mehr über die Arbeit des Vaters und seine leibliche Mutter zu erfahren.

Die Handlung in Anders Thomas Jensens neuem Film Men & Chicken enthält einige größere und kleinere Überraschungen, die Auflösung des Geheimnisses um die Herkunft ist ebenso naheliegend wie grotesk, ja, fast unglaublich. Jedoch gelingt es Anders Thomas Jensen trotz der Absurdität der Geschichte und des für ihn üblichen derben Humors, lebendige und vielschichtige Charaktere zu entwickeln. Erscheinen insbesondere die drei Brüder, die auf dem Anwesen leben, anfangs als Kuriositätenkabinett, nähert man sich ihnen im Verlauf des Films an, erkennt sowohl die Tragik als auch die schmutzige Schönheit ihres Daseins. Sie erfüllen schon äußerlich weit weniger gesellschaftliche Normen als Elias und Gabriel, die bei anderen Eltern aufgewachsen sind und einige Operationen hatten. Gregor und Franz sehen durch übergroße Nasen fremd aus, Josef ist dick und besessen von Käse. Sie streiten nicht mit Worten, sondern indem sie aufeinander einprügeln, außerdem sind sie aufbrausend und jähzornig. Hinzu kommt, dass das Anwesen völlig verwahrlost ist und überall Tiere leben. Würde der umtriebige Bürgermeister sie nicht brauchen, um die Insel davor zu bewahren, aufgrund zu weniger Bewohner von der Karte gestrichen zu werden, würden sie schon längst nicht mehr alleine leben. Aber innerhalb ihres Anwesens funktioniert ihre Gemeinschaft, erst in Kontakt mit der Außenwelt fällt ihr Anderssein umso deutlicher auf. Dadurch streift Men & Chicken im schwarzhumorigen Gewand zugleich Themen wie den Schönheitswahn, aussterbende Dörfer und die Bedeutung angepassten Verhaltens.

Dabei bewegt sich Anders Thomas Jensen sicher an der Grenze zur Geschmacklosigkeit, die er nur einmal – bei dem Besuch des Kindergartens – überschreitet. Vor allem aber ist der düstere Humor Ausgangspunkt für einen Film, dessen Ton zunehmend dunkler wird und der sich insbesondere im letzten Teil dem Horrorgenre nähert. Zuvor hat Anders Thomas Jensen mit seinem guten und durchdachten Drehbuch jedoch eine wahnsinnige Welt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten errichtet, die sogar dieses Ende als möglich erscheinen lässt. Außerdem gibt es – auch in der Synchronfassung – herrliche Wortspiele und witzige Szenen, die auf der Auslegung von Bibelstellen – in Adams Äpfel war es das Buch Hiob, hier ist die Geschichte von Abraham und Isaak – oder der Bedeutung von Nudelhölzern basieren. Darüber hinaus kann er sich auf eine sehr gute Besetzung verlassen. Mads Mikkelsen unterläuft die für seine letzten Rollen typische, sehr herausgestellte Männlichkeit, indem er körperlich weitaus schmaler, gebeugter erscheint, außerdem masturbiert er ständig, bekommt aber nie eine Frau ab. Nikolaj Lie Kaas überzeugt als schüchterner kleiner Bruder mit eher femininen Interessen. Søren Malling hat zwar das Sagen, doch seine dominante Fassade bekommt immer mehr Brüche, je mehr von ihm zu erfahren ist. Nicolas Bro muss niemals die für dicke Menschen typische Lachnummer spielen, sondern ist klug und sensibel. David Dencik ist einmal nicht der schmierige Bösewicht, sondern der angepasste, funktionierende Bruder. Und trotz aller Unterschiede im Aussehen ist es überzeugend, dass diese fünf tatsächlich Brüder sind. Zu ähnlich sind ihre Bewegungen, ihre Mimiken und ihre Reaktionen.

Somit vereint Men & Chicken die Qualitäten von Anders Thomas Jensens vorhergehenden Komödien: Der Film erzählt wie Flickering Lights und Adams Äpfel von einer Gruppe männlicher Außenseiter, die in eine besondere Situation geraten, und steckt voller verrückter Gewalt, schreckt wie Dänische Delikatessen aber auch vor makaberer Absurdität nicht zurück. Dennoch ist der Film eine ganz eigene, originelle, horrormäßige Familientragödie, die zehn Jahre nach Adams Äpfel abermals deutlich macht, dass Anders Thomas Jensen eine der originellsten Stimmen der skandinavischen Komödie ist.
 

Men & Chicken (2015)

„Dieses ist die Geschichte von ein paar Brüdern, denen Mutter Natur nicht in die Karten gespielt hat. Ehrlich gesagt, haben sie überhaupt keine Karten bekommen“, flüstert eine kindliche Erzählstimme zu Beginn des Films „Men & Chicken“ von Anders Thomas Jensen. Dazu sind verklärt-verschwommen zwei Kinder zu sehen, vermutlich Jungs, die im goldenen Sonnenlicht Eier in einen Korb legen und einen Gang hinuntergehen.

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Meinungen

Sharky · 09.06.2015

Ich habe den Film schon in Dänemark gesehen und er ist eine wirklich gelungene Komödie. Die anfänglich etwas wirre Geschichte mit Slapstickelementen entwickelt sich zu einem Film, in dem einen die Figuren am Herzen liegen und in dem man die naheliegende Auflösung des Geheimnisses um die Herkunft nicht wahrhaben will.

Sehr sehenswert