Mediterranea (2015)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Das Leben der Flüchtinge

Selten war ein Film so aktuell und zugleich so zeitlos. Jonas Carpignanos Flüchtlingsdrama Mediterranea verdeutlicht die Dringlichkeit, mit der Europa angesichts der vielen Toten im Mittelmeer zu einem Überdenken der Abschottungspolitik aufgefordert ist.

Mit eindringlichen Handkamerabildern von großer Unmittelbarkeit erzählt der Film von der beschwerlichen Reise, die Ayiva (Koudous Seihoun) und Abas (Alassane Sy) aus ihrer Heimat Burkina Faso über Libyen und das Mittelmeer bis ins rettende Süditalien machen, wo sie einen Job als Hilfsarbeiter ergattern können. Dann aber erfahren sie am eigenen Leibe, wie wenig gewünscht und willkommen sie sind.

Mediterranea basiert auf wahren Ereignissen, die der Italo-Amerikaner Jonas Carpignano offensichtlich bis ins Mark erschüttert und – so ist zu vermuten – auch beschämt haben. Im Jahre 2010 kam es in Rosarno zu Übergriffen gegen Migranten aus Afrika, die in Schüssen auf heimkehrende afrikanische Saisonarbeiter mündeten. Danach folgten schwere Unruhen zwischen Einheimischen und Migranten, bei denen 67 Menschen teilweise schwer verletzt wurden. Hinterher stellte sich heraus, dass zahlreiche der Saisonarbeiter von ihrem kärglichen Verdienst noch Schutzgeld an die in der Gegend herrschenden N’Drangheta-Clans zahlen mussten. Zudem, so kam ans Licht, war einer der Schützen der Sohn eines Oberhauptes der Mafia-ähnlichen Organisation.

Carpignano hatte die skandalösen Ereignisse bereits 2012 in seinem Kurzfilm A Chjàna verarbeitet, doch anscheinend verfolgte ihn das Thema auch später noch. In Mediterranea setzt er nun mit klaren und deutlich modernisierten Bezügen auf den Neorealismus seine Geschichte um, die quasi die Vorgeschichte vor den Unruhen von Rosarno erzählt.

Eindringlich und in immer wieder dokumentarisch anmutender Manier folgt er seinen Laiendarstellern auf ihrem beschwerlichen und gefährlichen Weg auf den vermeintlich reichen Kontinent Europa, wo sie aber ein noch größeres Elend erwartet als dort, von wo sie flohen. Erbärmliche Behausungen, Jobs, die anderswo längst als Sklavenarbeit angeprangert werden, dazu der alltägliche Hass und Rassismus – all das zeigt Mediterranea mit großer Eindringlichkeit und Schonungslosigkeit. Immer wieder reiht der Film in fast schon monotoner Weise Bilder einer lebensfeindlich anmutenden Umgebung aneinander. Die Tretmühle, die die Migranten hier durchlaufen, überträgt sich durchaus auch auf den Zuschauer, der wie Ayiva und Abas diesem Elend nicht entfliehen kann.

Mediterranea ist ein atmosphärisch beeindruckender Film, der zwar keine neuen Erkenntnisse über Migration und Ausländerfeindlichkeit mit sich bringt, die Fakten sind bei dieser Thematik längst bekannt. Selten aber wurden sie so eindringlich in Bilder von großer Schönheit und ebensolchem Schrecken gefasst wie hier. Insbesondere die Überfahrt über das Mittelmeer gleicht einem wahren Höllenritt. Immer wieder wechselt der Film spür- und sichtbar seinen Erzählrhythmus, reiht Szenen großer Hektik und Gewalt an vermeintlich ruhigere Sequenzen, bei denen man aber schnell ahnt, dass diese nicht von Bestand sein können.

Zwar wirkt Mediterranea nicht allein dadurch recht ruppig und zerfahren und an manchen Stellen hätte man sich eine sorgsamere Dramaturgie und differenziertere Inszenierung gewünscht, insgesamt aber vermag der Film aber durch seine quasi-dokumentarischen Einblicke in das Leben der Flüchtlinge zu überzeugen.
 

Mediterranea (2015)

Selten war ein Film so aktuell und zugleich so zeitlos. Jonas Carpignanos Flüchtlingsdrama „Mediterranea“ verdeutlicht die Dringlichkeit, mit der Europa angesichts der vielen Toten im Mittelmeer zu einem Überdenken der Abschottungspolitik aufgefordert ist.

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Meinungen

Lorenzo · 18.10.2015

Da kann ich Joachim Kurz nur zustimmen: Bei manchen Szenen habe ich mir schon gewünscht, der Film wäre mehr "Spielfilm" geworden, mit mehr Aufwand, was Dramaturgie und Technik anbelangt. Der Film fängt sehr abrupt an, und hat eigentlich auch kein Ende; zusammen mit der wackligen Handkamera hat der Film eher was von 'Reality-TV', was unbestritten sehr gut zum Inhalt passt, aber auf Dauer eben auch sehr anstrengend ist.

Hab' heute einen Artikel auf taz.de entdeckt, der belegt, wie erschreckend realistisch die Lebenssituation von Flüchtlingen in Europa beschrieben wird: www.taz.de/Erntehelfer-in-Apulien/!5236507/