Insel 36

Eine Filmkritik von Alina Impe

Kein Zuhause in der Fremde

Ein Rollkoffer rattert leise durch den Schnee. Sein Besitzer hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und steuert unsicher auf ein schmutziges Zelt zu. Die Temperaturen dürften hier drinnen nur marginal erträglicher sein, aber immerhin wird er mit warmen Worten empfangen. „Wir sind eine große Familie“, sagt Napuli und lächelt. „Wir“, das sind circa 70 Flüchtlinge aus der gesamten Republik, die sich im September 2012 nach Berlin aufmachten, um direkt vor den Augen der Politik ein Zeichen zu setzen. Menschen mit verschiedensten Hintergründen und Traumata, die ihre unwürdigen Lebensbedingungen nicht mehr ertrugen und ein mit Spenden verwaltetes Camp installierten. Gut sichtbar und nicht länger ignorierbar auf dem Oranienplatz in Kreuzberg.
Allen voran Napuli, die Initiatorin und Leiterin des Camps. Als einzige Frau innerhalb der Gruppe ist sie die zentrale Vertrauensinstanz. Ein Umstand, den auch Asli Özarslan als Regisseurin des Dokumentarfilms Insel 36 schnell begriff. Monatelang verbrachte sie ihre Zeit mit Napuli und den anderen Flüchtlingen, noch bevor überhaupt eine einzige Einstellung gedreht wurde, während die Tagespresse meist nach wenigen Stunden und getaner Arbeit wieder abzog. Vertrauen kostet Zeit.

Die Abschaffung von Lagerunterbringung, Residenzpflicht und Abschiebung sind die primären Ziele, mit denen sich weltweit Betroffene und Verbündete identifizieren. Das Medieninteresse ist groß, der Handlungswille der Politik allerdings begrenzt. Die Pflicht der Flüchtlinge zum Aufenthalt innerhalb behördlich bestimmter Grenzen findet nur in Deutschland Anwendung, nirgendwo sonst in Europa. Inzwischen wurde das Gesetz gelockert und für einen Zeitraum von drei Monaten befristet. Wer bis dahin keinen gesicherten Lebensunterhalt hat, muss dennoch mit weiteren Auflagen rechnen.

Während die Campbewohner an der eigens eingerichteten Sammelstelle für Spenden meist auf Zuspruch und Unterstützung stoßen, staut sich der Frust bei den Anwohnern im umliegenden Kiez. Ein Nachbarschaftstreffen in einem Gemeindesaal eskaliert, von Drogen und Kriminalität ist die Rede. Die Flüchtlinge verstehen genau, was ihnen zur Last gelegt wird und trotzdem fehlen ihnen die Worte. Ein Anspruch aller Asylbewerber auf professionelle Deutschkurse ist ebenfalls Bestandteil ihrer Forderungen.

Napuli beschließt, die Demonstration bundesweit auszudehnen. Mit zwei plakatierten Bussen geht es zu Flüchtlingslagern in Leipzig und Sachsen-Anhalt. Szenen von Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt und wütenden Lageraufsehern häufen sich. Zu den Menschen hinter den Zäunen gibt es kein Durchkommen. Manche von ihnen sitzen bereits seit Jahren hier fest und warten auf den Entscheid über ihren Asylantrag. „Fucking police!“, schreit einer der Demonstranten aufgewühlt. Napuli ruft ihn zur Ordnung. Der Kampf um Menschenrechte soll gewaltfrei verlaufen. Die Rückfahrt zu ihrem provisorischen Zuhause hinterlässt trotzdem ein Gefühl unverrichteter Dinge.

Am 9. April 2014 wurde das Flüchtlingscamp am Oranienplatz von der Polizei aufgelöst. Die Bilder der vertriebenen Menschen, die 18 Monate lang dort gelebt und demonstriert haben, sind nicht mehr Teil des Dokumentarfilms. Napuli verbrachte noch weitere 100 Stunden auf einem Baum, bis sie sich schließlich einem schriftlichen Angebot der Integrationssenatorin fügte. Inzwischen ist sie mit einem Anwalt verheiratet, wie Asli Özarslan zu berichten weiß. Der Kampf geht dennoch für sie weiter. Immerhin: Der selbst initiierte Protest von Flüchtlingen gilt bis dato in Deutschland als einzigartig. Ein erster Schritt auf einem langen Weg.

Insel 36

Ein Rollkoffer rattert leise durch den Schnee. Sein Besitzer hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und steuert unsicher auf ein schmutziges Zelt zu. Die Temperaturen dürften hier drinnen nur marginal erträglicher sein, aber immerhin wird er mit warmen Worten empfangen. „Wir sind eine große Familie“, sagt Napuli und lächelt.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen