Wintergast

Eine Filmkritik von Thorsten Hanisch

Odyssee eines Weltfremden

Man kennt das ja. Zusammensitzen mit Mama, Papa, Oma, Opa oder sonstigen Vorfahren. Ewig die gleichen Sprüche. „Wir hatten’s damals viel schwerer!“. „Die heutige Jugend ist total verweichlicht!“. Und so weiter und so fort. Man möchte um sich schlagen. Und sich nach Wintergast aber auch gleich wieder entschuldigen. Denn irgendwo scheinen die Herrschaften ja doch nicht so ganz Unrecht zu haben. Zumindest kann man sich kaum vorstellen, dass dieser Film damals so gedreht worden wäre.
Das komödiantisch angehauchte Drama aus der Schweiz schildert die Wohlstands-Probleme von Stefan Keller. Einst preisgekrönter, umjubelter Filmhochschulabgänger, hängt er nun komplett in den Seilen. Zwar hat ihm eine Produzentin einen Spielfilm angeboten, aber er kommt seit fünf (!) Jahren nicht über den ersten Satz hinaus. Die Vertragsauflösung naht in großen Schritten, aber auch der Papa hat keine Lust mehr, seinen mittlerweile 39-jährigen Sohnemann finanziell zu polstern. Die Hausverwaltung will überfällige Miete und – oh Schreck – die Freundin ein Kind. Stefan nimmt daraufhin einen Job als Herbergstester an. Die Reise durch die Schweiz wird zum Selbstfindungstrip, an dessen Ende keine sonderlich überraschende Erkenntnis steht.

Wintergast ist ein Debütfilm und bringt als solcher leider genau die negative Eigenschaft mit, die so vielen Debütfilmen das Genick bricht. Sprich, er ist so prätentiös, dass es weh tut. Die schwarz-weißen Bilder verzeiht man der schnarchig-selbstbezogenen Odyssee dabei noch, die messerscharfen Postkartenmotive sehen tatsächlich schick aus und bieten sich prima als Leinwandprojektion beim nächsten Electro-Happening im Club nebenan an. Ärgerlicher ist der Inhalt: Dass man 2015 zum trilliardsten Mal den Topos der „gequälten Künstlerseele“ bemüht, ist schon schlimm genug, leider fällt den beiden Machern Andy Herzog und Matthis Günter so gar nichts dazu ein.

93 Minuten lang bekommt man den Leidensweg eines offenbar völlig von der Welt abgekapselten Protagonisten zu sehen, der den Allerwertesten einfach nicht hochbekommt (lustigerweise war hier und da in der Presse zu lesen, dass Keller vor „Erwartungsdruck“ flieht – eine Feststellung, die in allertiefste Abgründe blicken lässt). Einem Mann von 39 Jahren, der sich in einem grotesken Abschnitt von einer über 10 Jahren jüngeren Vertreterin des starken Geschlechts auch noch banalste Alltagsweisheiten über Frauen erläutern lassen muss.

Es fällt schon unglaublich schwer, Interesse für oder gar Mitleid für diesen Tropf aufzubringen, zumal man bis auf die Sache mit der Filmhochschule praktisch nichts von ihm erfährt. Die Macher begnügen sich weitgehend, Keller in perfekt abzirkelte, weiträumige Tableaus (Kantinen, Waschräume, Gasthäuser, Bahnhöfe etc.) zu platzieren, um seine Einsamkeit und Verlorenheit deutlich zu machen, die sporadischen Dialogszenen verstärken nur den verträumt-weltfremden Eindruck.

Man will die von Co-Regisseur Andy Herzog immerhin gut gespielte Figur schon nach kurzer Zeit schütteln, ihm links und rechts eine Watschen geben, ihn ins Leben rufen – selten hat ein Hauptcharakter mit seiner Passivität, Naivität und Angst vor Verantwortung so genervt. Und man fragt sich, wenn der Abspann läuft, derzeit unweigerlich ebenso, was wohl ein vor Krieg und Terror Geflohener von dieser Figur mit ihren Wohlstandproblemen halten würde.

Irgendwie auch ein Film zur falschen Zeit.

Wintergast

Man kennt das ja. Zusammensitzen mit Mama, Papa, Oma, Opa oder sonstigen Vorfahren. Ewig die gleichen Sprüche. „Wir hatten’s damals viel schwerer!“. „Die heutige Jugend ist total verweichlicht!“. Und so weiter und so fort. Man möchte um sich schlagen. Und sich nach „Wintergast“ aber auch gleich wieder entschuldigen.
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Meinungen

Jay · 09.04.2022

Oh wow, da spricht ja einer vom anderen Stern?!
All das was besonders und wirklich gelungen an dem Film ist, wird ins komplett Negative verwertet. Vielleicht nicht ganz dein Genre, lieber Kritiker?

Die charmante, monotone schwarzweiß Inszenierung mit den sich ständig wiederholenden Kantine Szenen und der eigenartigen Haltung der Hauptfigur beim Essen, gerade bildet das Gerüst für den Film. Die irgendwie Verzweifeltheit des Hauptdarstellers, trifft auf diese außergewöhnlich inspirierten jungen Leute, die scheinbar noch alles vom Leben zu erwarten haben. Der Film spielt mit einer zu erwartenden Gleichförmigkeit von Ereignissen und Protagonisten. Manche von diesen Charakteren scheinen so weit außerhalb der Gesellschaft, daß sie absolut grotesk und beinahe schockierend wirken. Durch den liebevoll, subtilen Humor, der wie eine Schneekuppe über dem Streifen liegt, wirkt jede 'Peinlichkeit' dieser unterschiedlichsten Begegnungen einfach irgendwie relativ und der Betrachter wird automatisch zum Kichern gebracht.
Insgesamt lauter urkomische Tagesepisoden, stimmig aneinandergereiht und mit beinahe Twist zum guten Ende, in einem Alpen - Bahn - Movie der nichts als magisch von der ersten bis zur letzten Minute funktioniert.