Stiller Sommer

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Als es Mutter die Sprache verschlug...

Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, hat es ihr buchstäblich die Sprache verschlagen: Kristine, eine Kunsthistorikerin aus Deutschland (sehenswert und zu Beginn sprachlos gespielt von Dagmar Manzel), scheint schnell zu ahnen, dass dieser Verlust der Stimme nicht einfach nur eine normale Erkrankung ist, sondern womöglich Ausdruck eines psychosomatischen Ungleichgewichts. Also packt sie ihre Sachen und flieht in das Ferienhaus der Familie in den Cevennen, das scheinbar leer steht. Dann aber ist das Töchterlein Anna (Marie-Rosa Tietjen) da, die gerade eine wichtige Prüfung verhauen hat und die sich mit einem jungen Franzosen vergnügt – und vorbei ist der Traum vom Rückzug. Und die Turbulenzen, vor denen Kristine eigentlich geflüchtet ist, nehmen noch weiter zu, als auch ihr Ehemann Herbert (Ernst Stötzner) im Süden auftaucht – und mit ihm all das Verdrängte, Beiseitegeschobene und überhaupt alles, von dem Susanne eigentlich nicht mehr sprechen wollte.
Unter südlicher Sonne entspinnt sich ein Beziehungsreigen mit harmlosen und weniger harmlosen Pilzen, wild wuchernden sexuellen Begierden, jeder Menge Rotwein und der Erkenntnis, dass Familie auch nicht mehr das ist, was es früher einmal war. Vor allem aber muss sich Kristine dem stellen, was vor langer Zeit in dem beschaulichen Dorf geschah und dessen Schatten bis in die Gegenwart hineinreichen.

Dass Nana Neuls familiäre Tragikomödie Stiller Sommer entfernt an Was bleibt und an Alle Anderen erinnert, liegt im ersten Fall vor allem an Ernst Stötzner, der hier wieder eine ähnlich angelegte Rolle spielt, und beim zweiten Referenzpunkt an der Grundkonstellation der Vivisektion eines Beziehungsgeflechts unter südlicher Sonne.

Doch es gibt noch ein weiteres Element, das sich wenig deutsch anfühlt: Allen Konflikten zum Trotz versucht sich Stiller Sommer an einer sonnendurchfluteten Leichtigkeit, wie man sie sonst vor allem in Filmen aus Frankreich zu sehen bekommt, von François Ozon, Eric Rohmer oder anderen Regisseuren, bei denen das Banale und das Grauen des Alltags immer ganz nah beieinander liegen. Das Ergebnis ist interessant und aufgrund der multiperspektivischen Erzählweise, die für manche Überraschung sorgt, auch überaus unterhaltsam, aber nicht zur Gänze gelungen.

Am wenigsten liegt dies an den durch die Bank herausragenden Schauspielern, bei denen einzig Victoria Trauttmansdorff als überdrehte Nachbarin Barbara den Bogen ein ums andere Mal überspannt. Vor allem wie Dagmar Manzel eine stumme und verletzte, dann im nächsten Moment wieder beinahe kindliche Frau spielt, ist wirklich sehenswert. Unterstützt wird sie dabei von Ernst Stötzner und Marie-Rosa Tietjen, die eine der vielversprechendsten jungen Darstellerinnen ist, die es derzeit in Deutschland gibt.

Bei allem Vergnügen, das dieser Film bereitet, fällt aber doch auf, wie wenig man eigentlich mit diesen Personen, die sich da abmühen auf der Suche nach dem Glück, mitleidet, wie wenig man sich von ihrem Schicksal, ihren Problemen, ihren Ängsten und den Traumata ihrer Lebenslügen mitreißen lässt, wie fremd sie einem trotz aller Intimität bleiben. Vielleicht ist es ja gerade die angestrebte und als Grundtonalität spürbare Leichtigkeit und die zweifelsohne kunstvolle Verschachtelung des Drehbuchs, vielleicht sind es auch die stellenweise zu weit getriebenen Klischees und Wendungen, die am Ende für ein emotionales Defizit seitens des Zuschauers sorgen: Gerne lacht man über dieses Ensemble und ein wenig trauert man auch um sie, aber man tut dies nicht mit ihnen.

Dennoch und bei aller berechtigten Kritik: Nana Neuls Stiller Sommer ist auch und vor allem eine beachtliche Talentprobe, die definitiv in eine interessante Richtung weist. Man muss gespannt sein, auf welchen Pfaden die Filmemacherin bei ihren nächsten Werken wandeln wird. Dass sie ein Händchen für Schauspieler, ein Gespür für ungewöhnliche Konstellationen und Mut zum erzählerischen Risiko besitzt, hat sie mit diesem Film hinreichend bewiesen.

Stiller Sommer

Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, hat es ihr buchstäblich die Sprache verschlagen: Kristine, eine Kunsthistorikerin aus Deutschland (sehenswert und zu Beginn sprachlos gespielt von Dagmar Manzel), scheint schnell zu ahnen, dass dieser Verlust der Stimme nicht einfach nur eine normale Erkrankung ist, sondern womöglich Ausdruck eines psychosomatischen Ungleichgewichts.
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