Rosie

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Keine Ruhe im Alter oder: Immer wieder Autobahn

Manchmal passieren einem bestimmte Dinge, die man nicht gleich als diese bemerkt. Manchmal sind diese Dinge auch gar nicht so wichtig. In meinem Leben ist das jedenfalls gerade, dass ich in letzter Zeit ungewöhnlich viele Filme aus der Schweiz gesehen habe. Wenn die allerdings alle so wunderbar wären wie just Rosie von Marcel Gisler, dann wäre dagegen nichts weiter einzuwenden (in gegenläufigen Fällen wahrscheinlich auch nicht). Naja. Gisler jedenfalls setzt sich in seinem ersten Kinospielfilm seit 14 Jahren mit seiner eigenen Familiengeschichte auseinander – genauso wie zum Beispiel vor Kurzem – natürlich – ein weiterer Schweizer: Peter Liechti mit seiner experimentellen Dokumentation Vaters Garten – Die Liebe meiner Eltern.
Zur Geschichte von Rosie: Lorenz (Fabian Krüger) hat seine Schweizer Heimat lange verlassen und sich als Schriftsteller in Berlin einen Namen gemacht. Als seine Mutter Rosie (Sibylle Brunner) zu Hause aufgrund eines leichten Schlaganfalls stürzt und ins Krankenhaus kommt, fährt er sofort zurück in sein Heimatdorf. Zusammen mit seiner Schwester Sophie (Judith Hofmann), die sich eigentlich gerade lieber einmal mehr mit ihrer mies laufenden Ehe auseinandersetzen will, berät er, wie es mit der renitenten Rosie nun weitergehen soll. Denn: sie will partout nicht von Pflegerinnen bevormundet werden, geschweige denn ins Heim. Stattdessen frönt sie weiter munter ihrem bisherigen Leben, raucht und trinkt, nimmt kein Blatt vor den Mund und hat einen erheiternd scharfzüngigen Humor. Sibylle Brunner spielt diese schroffe, alte Dame ganz fabelhaft, ungeschminkt und mit vollem Körpereinsatz. Ihre Rosie ist derart witzig und einnehmend, dass man als Zuschauer fast vergisst, wie einsam und verlassen sie eigentlich ist.

Überhaupt: das komplette (Familien)Ensemble macht seine Sache äußerst beachtlich. Fabian Krüger mimt den Lorenz mit melancholischem Blick und entwickelt mit seinem zurückhaltenden Spiel eine enorme Präsenz, die problemlos seiner quirligen Mutter die Stirn bietet. Judith Hofmann kann man als Sophie dabei beobachten, wie sie langsam gegenüber ihrem Bruder wieder auftaut, ihre Züge sich zunehmend entspannen, obwohl sie ihren Frust dann doch auch immer wieder an den unterschiedlichen Lebensentwürfen der beiden abarbeitet. Und dann ist da noch der junge Mario (Sebastian Ledesma) aus der Nachbarschaft, der die Konstellation mehrmals gehörig durcheinander bringt und dabei als einziger Laiendarsteller den Profis in nichts nachsteht.

Rosie ist ein Film, der sich Zeit nimmt, um sich auf die einzelnen Charaktere und deren Beziehungen untereinander zu fokussieren. Dabei gewährt Gisler als Regisseur den Schauspielern viel Freiraum zur spielerischen Entfaltung. Kammerspielartig inszeniert, findet das Gros der Handlung in Innenräumen statt, was das sowieso schon intensive Spiel zusätzlich intensiviert. Daneben ist außerdem die Dramaturgie des Drehbuchs überaus gelungen. Immer wieder gibt es unspektakuläre, doch überraschende Wendungen wie zum Beispiel jene von Rosie, die an einer Stelle intime Details aus ihrer eigenen, lange vergangenen Ehe offenbart, die wiederum ganz neue Verzweigungen eröffnen. Zu den Figuren entwickelt man ein erfrischend ambivalentes Verhältnis, hin- und hergerissen zwischen Sympathie und Antipathie.

Diverse Charakterschichten werden mit zunehmender Dauer des Films geschickt offenbart, wodurch ein komplexes und mehrdimensionales inner- und außerfamiliäres Beziehungsnetz entsteht. Als Gegengewicht zu den (seelischen) Innenräumen der Figuren sind wiederkehrende Autobahnszenen gesetzt, die die wiederkehrende Hin- und Herfahrt von Lorenz zwischen Heimat und Berlin bebildern. Gleichzeitig machen sie mit ihren Jahreszeitwechseln – mal ist es grüner Frühling, dann weißer Winter – auf das zwischenzeitliche Zeitvergehen aufmerksam. Sie fungieren als Ellipsen: nach jeder Autobahnfahrt ist in der Geschichte abseits der gezeigten Bilder wieder viel passiert. Diese kurzen Intermezzi verleihen dem Film einen angenehmen Rhythmus, sind sie strukturell doch stets gleich aufgebaut: sie beginnen mit einer Abblende (wie wenn im Theater der Vorhang fällt und der nächste Akt folgt), gefolgt von der Autobahnsequenz aus Fahrerperspektive gefilmt, die dann ein abrupter Schnitt in Bild und Ton beendet und uns zurück hinein ins Leben der Familie katapultiert.

All die Geschehnisse des Familienlebens sind in Rosie konsequent aus der Sicht von Lorenz erzählt. Wir sind als Zuschauer konstant auf seinem Wissensstand, was den Handlungsverlauf zusätzlich zuspitzt. Die treibende Kraft für die Geschichte ist allerdings nicht er, sondern ganz klar Rosie. Mit welcher Verve sie Akzente setzt, um Würde und gegen ihre Entmündigung im Alter kämpft, ist nichts weniger als fabelhaft mit anzuschauen. Rosie hat wie alle anderen Figuren auch ihre Schwächen, eine davon ist, dass sie sich wie ihre beiden Kinder zur Selbststabilisierung an andere Menschen klammert. Rosie hat sich früher an ihren Mann geklammert, obwohl es diesem in deren Ehe nicht mehr gut ging, er – nicht zuletzt wegen ihr – depressiv wurde und tief unglücklich verstarb. Sophie klammert sich an ihren für sie offensichtlich unpassenden Ehemann, den sie einmal verlässt, nur um ihn dann wieder bei sich willkommen zu heißen. Sie schaffe das alles nicht alleine, sie sei eben nicht so stark wie er, sagt sie an einer Stelle zu Lorenz, der zunächst als der Unabhängigste der drei erscheint. Diesen Eindruck tilgt dann bald der Verlauf die Geschichte: wenn er unbedingt emotionalen Beistand von Mario möchte, diesen nur widerwillig bekommt. Von diesen Figuren will oder kann keine dauerhaft alleine leben, zusammen ist man vielleicht wirklich weniger allein, auch wenn das zusammen nicht so das Wahre zu sein scheint.

Noch eine Bemerkung zur Sprache: Rosie ist komplett in Schweizerdeutsch gedreht (und auch glücklicherweise untertitelt), eine Premiere für Regisseur Gisler. Das macht den Film neben der farblich abgestimmten Bebilderung (Kamera: Sophie Maintigneux) auch zu einem intensiven Hörgenuss. Die Dialoge sind erfrischend, aufs Nötigste reduziert und pointiert. Alle Beteiligten sind Schweizer Schauspieler, die an deutschen Theaterbühnen arbeiten, sie beherrschen also mehrere Register, was etwa bei Lorenz‘ Telefonaten mit seinem Berliner Literaturagenten zum Tragen kommt. Nun ein kleiner Wermutstropfen, aber wirklich nur ein kleiner: Am Ende der Geschichte knickt Rosie leider ein wenig ein. Er verliert etwas von jener Straffheit in Handlung und Dialog, die er bis dato vorgegeben hat. Da hätte man sich vielleicht mehr Mut zu jener dezenten Giftigkeit gewünscht, die die titelgebende Rosie versprüht. Und ein wenig mehr von dem angenehmen Schmerz, den man auf der Leinwand so gebannt verfolgt hat. Aber: das ist Meckern auf hohem Niveau.

Denn: Rosie ist auf vielen Ebenen penibel und sehr gekonnt durchkomponiert, ohne dass er einem damit auf die Nerven fällt. Er ist nonchalantes Kino aus der Schweiz, das man sich anschauen sollte. Er ist nah am Leben, ein alltäglicher Realismus weit weg von jeglichen Schweizer Alpenklischees. Aus dieser befreiend erzählten Familiengeschichte erkennt jeder etwas aus seinem eigenen Leben wieder. Eins ist sicher: Marcel Gisler sollte mit seinem nächsten Film auf keinen Fall noch einmal vierzehn Jahre warten.

Rosie

Manchmal passieren einem bestimmte Dinge, die man nicht gleich als diese bemerkt. Manchmal sind diese Dinge auch gar nicht so wichtig. In meinem Leben ist das jedenfalls gerade, dass ich in letzter Zeit ungewöhnlich viele Filme aus der Schweiz gesehen habe. Wenn die allerdings alle so wunderbar wären wie just „Rosie“ von Marcel Gisler, dann wäre dagegen nichts weiter einzuwenden (in gegenläufigen Fällen wahrscheinlich auch nicht).
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