Qissa - Der Geist ist ein einsamer Wanderer

Eine Filmkritik von Alina Impe

Ein Körper, zwei Identitäten

Vor zehn Jahren starb der Kanadier David Reimer, dessen tragisches Leben im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Debatte um Sex und Gender bekannt wurde. Als Baby hieß David Bruce. Nach einer missglückten Beschneidung wurden ihm auf Anraten des Sexualwissenschaftlers John Money seine verbliebenen männlichen Geschlechtsorgane wegoperiert. Seine Eltern nannten ihn fortan Brenda und verabreichten ihm ab dem 12. Lebensjahr weibliche Hormone. Bis er 1980 erfuhr, dass er als Junge geboren wurde, daraufhin die Hormone absetzte, sich erneut geschlechtsumwandelnden Operationen unterzog und seinen Namen abermals änderte. 2004 beging David Reimer im Alter von 38 Jahren Selbstmord; die Gründe sind bis heute ungeklärt.
Für Money war David der ideale Proband zur Untermauerung seiner Theorie von einem sozial determinierten Geschlecht, das sich im frühkindlichen Stadium unabhängig vom biologischen entwickle. Money argumentierte, dass bei Babys und Kleinkindern die primären Geschlechtsorgane keinen Einfluss auf die sexuelle Identitätsbildung hätten und diese stattdessen durch die bipolaren Rollenmuster von Männlich und Weiblich geformt würde. Rückblickend gilt er als kontrovers diskutierter Pionier der Gender-Theorie.

Der Leidensweg von David Reimer weist viele Parallelen zu der Geschichte der Protagonistin Kanwar in Anup Singhs Qissa auf, auch wenn sie sich in einem gänzlich anderen zeitlichen und politischen Kontext abspielt. Ende der 1940er Jahre wird Kanwar als viertes Kind in eine Sikh-Familie geboren, die nach der Teilung Indiens aus Pakistan vertrieben wurde. Ihr Vater Umber, ein autoritärer Patriarch, der das Fortbestehen der Familie sichern möchte, wünscht sich nach drei Töchtern in Folge sehnlichst einen Sohn. So sehr, dass er das biologische Geschlecht des Neugeborenen ignoriert. Das vierte Mädchen der Familie Singh wird als Junge aufgezogen. Solange Kanwar noch ein Kind ist, überkommt sie nur selten der Verdacht, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Das ändert sich mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter. Kanwar soll eine Frau niederer Kaste heiraten und eigene Nachkommen zeugen. Erst jetzt begreift sie, dass ihr Vater ihr eine Identität aufgezwungen hat, der sie niemals gerecht werden kann.

In dem Umfeld, in dem Kanwar aufwächst, sind Frauen nichts wert. „Nutzlose, dumme Dinger“, die höchstens für ihre Schönheit Anerkennung erhalten und ansonsten nur als Gebärmaschinen oder Haushaltskräfte taugen. Heranwachsende Jungen werden stets bevorzugt behandelt, gelten als etwas Besonderes und sind der Stolz der ganzen Familie. Kanwar bedeutet übersetzt „kleiner Prinz“. Privilegien wie Selbstverteidigung erlernen, Auto fahren oder einem Beruf nachgehen bleiben ihr vorbehalten, während ihre drei Schwestern nur darauf warten können, eines Tages zu heiraten, um noch mehr männliche Nachkommen in die Welt zu setzen.

Doch aus den Privilegien folgen Pflichten, die Kanwar nicht erfüllen kann. Mangelnde Aufklärung, weit geschnittene Kleidung und das bewusste Wegsehen der Mutter führen dazu, dass ihr unbewusstes Geheimnis für lange Zeit sicher ist. Erst in ihrer Hochzeitsnacht erfährt Kanwar, dass ihr männlich erzogener Geist in einem weiblichen Körper wohnt. Kanwar stürzt in eine irreparable Identitätskrise, die der Gender-Theorie Recht gibt: Ihr Leben lang folgte sie maskulinen Rollen- und Verhaltensmustern, die sich nicht wieder ablegen lassen. Das Mädchen, das sie jetzt im Spiegel anschaut, findet sie hässlich und abstoßend. Das neue Leben, das damit verbunden ist, kann sie nicht annehmen.

Qissa erzählt abseits gängiger Bollywood-Märchen eine moderne Geschichte über ein veraltetes Traditions-Korsett, dessen rückständiger Geschlechterdualismus sich ausschließlich über entweder-oder definiert. Heute, gut 65 Jahre später, verschafft sich das Dazwischen durch queere oder transsexuelle Strömungen zwar immer mehr Gehör, jedoch ist der weltweite Kampf um das Recht zur sexuellen Selbstbestimmung und gegen diskriminierende Heteronormativität noch längst nicht ausgefochten. Anup Singhs historisches Genderdrama spannt somit den Bogen zu einer nach wie vor aktuellen politischen Schieflage, in der der Zwang zur Norm als Konsequenz von gesellschaftlicher Rückständigkeit und Ignoranz lesbar wird.

Qissa - Der Geist ist ein einsamer Wanderer

Vor zehn Jahren starb der Kanadier David Reimer, dessen tragisches Leben im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Debatte um Sex und Gender bekannt wurde. Als Baby hieß David Bruce. Nach einer missglückten Beschneidung wurden ihm auf Anraten des Sexualwissenschaftlers John Money seine verbliebenen männlichen Geschlechtsorgane wegoperiert. Seine Eltern nannten ihn fortan Brenda und verabreichten ihm ab dem 12. Lebensjahr weibliche Hormone.
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