Nebel im August

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Leben ohne Wert

Angesichts der Fülle an Filmen über die NS-Zeit ist es erstaunlich, dass die Auswüchse des sogenannten ‚Euthanasie‘-Programms im Kino bislang keinen großen Widerhall gefunden haben. Arbeiten über das Grauen auf dem Schlachtfeld, den Schrecken in den Konzentrationslagern und mutige Widerstandskämpfer gibt es zuhauf. Die massenhafte Tötung psychisch kranker und behinderter Menschen ist hingegen ein Kapitel der Nazi-Diktatur, das selten aufgeschlagen wird. Umso erfreulicher, dass mit der Verfilmung des Tatsachenromans Nebel im August von Robert Domes nun eine Aufarbeitung dieser auch in der Wissenschaft lange unterschlagenen Thematik ihren Weg auf die Leinwände findet. Und nicht nur das, Regisseur Kai Wessel (Hilde) legt auch noch ein packendes und erschütterndes Historiendrama vor, das größtenteils ohne billige Überzeichnungen und dümmliche Klischees auskommt.
Im Mittelpunkt des Films steht der 13-jährige Ernst Lossa, dessen Geschichte Domes in seinem 2008 veröffentlichten Buch nachzeichnet. Anders als der Roman, der mit seinen Schilderungen bereits in der Kindheit des 1929 geborenen Jungen beginnt, konzentriert sich die Adaption auf sein Schicksal in einer süddeutschen Heil- und Pflegeanstalt Anfang der 1940er Jahre. Da man Ernst (Jack-Entdeckung Ivo Pietzcker) in diversen Erziehungsheimen als unangepasst und asozial einstuft, wird er in die Nervenklinik von Dr. Veithausen (Sebastian Koch) abgeschoben, wo der Halbwaise dem Hausmeister (Branko Samarovski) der Einrichtung zur Hand gehen soll. Lange braucht der Teenager nicht, um sich in der neuen Umgebung einzuleben. Und schon bald baut Ernst eine vertrauensvolle Beziehung zur Epileptikerin Nandl (Jule Hermann) auf. Als er begreift, dass in der Anstalt immer wieder Insassen verschwinden und getötet werden, fasst er den Entschluss, gemeinsam mit seiner Freundin zu fliehen.

Die Qualität des Films lässt sich schon an der verhältnismäßig ausgefeilten Figurenzeichnung erkennen. Veithausen, der Inbegriff des ehrgeizigen Systemunterstützers, wird nicht nur als kaltherziger Richter über Leben und Tod gezeigt. Mehrfach sehen wir auch, wie er sich rührend um seine Patienten kümmert und mit ihnen herumalbert. Menschliche Züge blitzen auf, werden zuweilen aber binnen Sekunden von knallharten Einschätzungen und Diagnosen ersetzt, die das Schicksal der betroffenen Personen besiegeln. Ähnlich ambivalent verhält sich auch Veithausens Assistent Hechtle (Thomas Schubert), der mit handfesten Gewissensbissen zu kämpfen hat, sich jedoch nicht gegen die Anordnungen seines Vorgesetzten auflehnt. Ein zaudernder Befehlsempfänger, der dem brutalen Vernichtungsapparat zuarbeitet, obwohl er es eigentlich besser wüsste. Etwas anders verhält es sich im Fall von Schwester Sophia (Fritzi Haberlandt), die dem mörderischen Treiben irgendwann nicht mehr zusehen kann, bei der Kirche allerdings auf taube Ohren stößt. Getreu dem Motto: Es reicht, wenn wir Trost spenden, statt wirklich zu helfen. Eines von vielen Details, das dem Betrachter das damals weitverbreitete Duckmäusertum vor Augen führt.

Den Protagonisten präsentieren die Macher als einen Rebellen mit Ecken und Kanten, der sich im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten für seine Mitinsassen starkmacht und das bürokratisch abgewickelte Töten nicht einfach hinnehmen will. Wer allerdings glaubt, es hier mit einer rundum erbaulichen Widerstandsgeschichte zu tun zu haben, sei an dieser Stelle gewarnt. Nebel im August nimmt keine Rücksicht auf lieb gewonnene Figuren und überrascht bis zum Ende mit einer Konsequenz, die den Betrachter erschaudern lässt. Hoffnungsschimmer werden durchaus gesät. Unmissverständlich zeigt das historische Drama aber auch, dass das ‚Euthanasie‘-Programm – ein schrecklich euphemistischer Name, immerhin heißt das Fremdwort übersetzt so viel wie ‚leichter Tod‘ – eine perfekt geölte Mordmaschinerie war, in der rücksichtlos zwischen wertvollem und wertlosem Leben unterschieden wurde. Psychisch kranke und behinderte Menschen, die nicht als Arbeitskräfte eingesetzt werden konnten, waren in den Augen der Machthaber für die ‚Volksgemeinschaft‘ nutzlos und damit entbehrlich.

Da das Thema selbst schon genug Beklemmung erzeugt, hält sich Wessel in seiner Inszenierung spürbar zurück. Nicht große Gesten, sondern behutsame Beobachtungen in entsättigten Bildern bestimmen die Romanadaption. Greifbar ist der bedächtige Ansatz etwa in dem Moment, als sich Ernst in der Klinik von seinem Vater (Karl Markovics) verabschiedet hat, dessen Umrisse langsam in der Unschärfe verschwinden. Als Zuschauer weiß man bei diesem Anblick: Ein Wiedersehen wird es nicht geben. Obwohl oder gerade weil Nebel im August mit seinem Sujet sensibel umgeht, lüftet der Film den Schleier, der im deutschen Kino viel zu lange über dem ‚Euthanasie‘-Programm der Nazis gelegen hat. Und gibt mit Ernst Lossas Geschichte den mehr als 200.000 Psychiatrie-Patienten ein Gesicht, die zwischen 1939 und 1944 systematisch ermordet wurden.

Nebel im August

Angesichts der Fülle an Filmen über die NS-Zeit ist es erstaunlich, dass die Auswüchse des sogenannten ‚Euthanasie‘-Programms im Kino bislang keinen großen Widerhall gefunden haben. Arbeiten über das Grauen auf dem Schlachtfeld, den Schrecken in den Konzentrationslagern und mutige Widerstandskämpfer gibt es zuhauf. Die massenhafte Tötung psychisch kranker und behinderter Menschen ist hingegen ein Kapitel der Nazi-Diktatur, das selten aufgeschlagen wird.
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Meinungen

Fritz71 · 05.10.2016

Das damals verbreitete Duckmäusertum? Nun, daran hat sich in D bis heute nichts verändert. Wir gehen mit Merkel unter, wie die Menschen damals mit Hitler.

Chris P. Bacon · 09.05.2021

Und was sollen wir deiner Meinung nach tun? Anarchie? Diktatur?