Multiple Schicksale

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Vom Kampf gegen die Isolation

Als Jann Kessler, der Regisseur dieses Dokumentarfilms, fünf Jahre alt war, erkrankte seine Mutter an Multipler Sklerose. Mit 18 Jahren beschließt der Schweizer Gymnasiast, sich ihr und ihrem schweren Schicksal wieder anzunähern. Denn es fiel dem Jugendlichen lange schwer, die Mutter, die nicht mehr sprechen kann, im Pflegeheim zu besuchen. Nun bringt er seine Filmkamera mit, erzählt im Voice-Over über seine Beziehung zur Mutter und stellt auch sechs andere Personen vor, die an Multipler Sklerose erkrankt sind. Manche von ihnen gehen zur Arbeit, versorgen ihre Familien, andere jedoch sind zeitweise oder dauerhaft auf Pflege angewiesen. So zeigt der Film, wie auch der deutsche Beitrag Kleine graue Wolke von Sabine Marina, der 2015 in den Kinos lief, dass Multiple Sklerose zu Recht als „die Krankheit der 1000 Gesichter“ gilt.
Schon die ersten Symptome sind unterschiedlich, vom Kribbeln in den Fingern über Sehstörungen oder Erschöpfung bis hin zu Lähmungserscheinungen. Unter den Porträtierten ist ein Familienvater, der rein äußerlich gesund wirkt, obwohl er schon seit 23 Jahren mit der Krankheit lebt. Bei anderen hingegen, wie einer jungen Frau Anfang 20, nimmt die chronische, oft in Schüben verlaufende entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems einen schlimmeren Verlauf. Kessler lässt die sechs Betroffenen und manche ihrer Angehörigen erzählen. Mit zum Teil großer Offenheit wird von dem Schock nach der Diagnose und dem Hadern mit dem Schicksal gesprochen. Viele wollen die eigenen Kinder und andere Angehörige nicht belasten und verbergen ihren Kummer. Manche haben Angst, Freunde zu verlieren oder nie mehr einen Partner zu finden. Eine junge Frau erzählt aber auch, dass sie jetzt viel bewusster lebt. Das Ringen um kleine Erfolge und um eine positive Einstellung scheint im Alltag vieler eine zentrale Rolle zu spielen. Der ebenfalls erkrankte Rainer hingegen beschließt, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, als er zum Pflegefall wird. Auch diesen Prozess begleitet Kessler mit der Kamera.

In der Gegenüberstellung mit Patienten, die schwer um einen Halt im Leben ringen, kann Rainers Geschichte leicht zu negativ und entmutigend wirken. Andererseits spricht auch eine weitere Betroffene davon, dass das Wissen, dem Leben notfalls ein Ende setzen zu können, ihr Gefühl der Selbstbestimmung stärkt. Rainers Entscheidung lenkt die Aufmerksamkeit auch wieder zurück auf Kesslers Mutter und die bange Frage ihrer Familie, ob sie sich heute nicht, wenn sie das noch könnte, ebenfalls Sterbehilfe wünschen würde. Sie habe aber früher nie über die Krankheit sprechen wollen, erinnern sich die Angehörigen.

Als Einzige der Porträtierten kann die Mutter des Filmemachers auch nicht die Zustimmung zum Dreh erteilen. Dieser Umstand erinnert an die ethischen Diskussionen, die bereits bei Vergiss mein nicht geführt wurden, in dem David Sieveking seine demenzkranke Mutter vor die Kamera holte. Kessler ließ sich von seinem Gefühl leiten, das Filmen sei für die Mutter in Ordnung. Es gibt sehr zärtliche, anrührende Szenen gerade in dieser Zweiersituation am Krankenbett: Wenn sie die Stimme ihres Sohnes hört, sucht die Mutter wiederholt den Blickkontakt mit ihm, obwohl sie die eigenen Bewegungen fast gar nicht mehr steuern kann.

Kessler liest seiner Mutter öfter Hermann Hesses Siddharta vor und stellt so eine Nähe her, die das Problem einer Einbahnkommunikation elegant abmildert. Die Hilflosigkeit der Mutter ist in gewisser Weise auch seine, aber er hat aufgehört, sich vor ihr zu verschließen. Denjenigen MS-Patienten in Kesslers Film, die sich noch mitteilen können und diese Fähigkeit vielleicht auch nie verlieren werden, hilft es mit Sicherheit ebenfalls, wenn sich ihr Umfeld nicht aus Angst und aufgrund von Vorurteilen abwendet. Das Bedürfnis, mehr über diese Krankheit zu erfahren, scheint jedenfalls weit verbreitet zu sein: Allein in der Schweiz sahen über 13.000 Kinobesucher Multiple Schicksale an.

Multiple Schicksale

Als Jann Kessler, der Regisseur dieses Dokumentarfilms, fünf Jahre alt war, erkrankte seine Mutter an Multipler Sklerose. Mit 18 Jahren beschließt der Schweizer Gymnasiast, sich ihr und ihrem schweren Schicksal wieder anzunähern. Denn es fiel dem Jugendlichen lange schwer, die Mutter, die nicht mehr sprechen kann, im Pflegeheim zu besuchen. Nun bringt er seine Filmkamera mit, erzählt im Voice-Over über seine Beziehung zur Mutter und stellt auch sechs andere Personen vor, die an Multipler Sklerose erkrankt sind.
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Meinungen

Carol · 16.09.2016

Ich habe den Film noch nicht gesehen, erwähnen sollte man aber vielleicht, dass die MS-Verbände eine Warnung ausgesprochen haben für frisch Diagnostizierte oder Menschen, die noch in der Diagnoseverarbeitung stecken, den Film besser nicht oder nur in Begeitung zu schauen. (Dahinter steckt auch die in der Schweiz und Deutschland unterschiedlich geführte Diskussion über Sterbehilfe.)

Sigrid Ehrhard · 16.09.2016

Bin selber seit 40 Jahren an MS erkrankt und finde den Film sehr
beeindruckend. So zeigt der Film die vielen Gesichter dieser Erkrankung und rückt sie " hoffentlich mehr "in den Fokus der Öffentlichkeit. Ich selber leite eine Selbsthilfegruppe mit Betroffenen
und hoffe, dass Ihr Film vielen MS-Betroffenen Mut macht und zeigt,
dass " wir " uns mit unserer Erkrankung sehr engagiert auseinandersetzen. Über die eigenen Wünsche und Ziele nachzudenken, kann ein weiterer Schritt zu mehr Qualität im eigenen ( Er- ) Leben sein.

Danke, für diesen Film und für Ihre Mutter alles Gute
liebe Grüße
Sigrid Ehrhard