Memoria Viva - Lebendige Erinnerung

Narrationen lebendiger Erinnerungen

Wahrhaft lebendige Erinnerungen kann es wohl nur geben, wenn bei bestimmten Ereignissen Anwesende solche hegen und pflegen. Dabei ist es der Vitalität und Kraft dieser Gedächtnisse meist ungemein zuträglich, wenn die memorierende Person aktiv am Erlebten beteiligt war und zudem bereit ist, ihre retrospektiven Gedanken darüber auch zu teilen. Für den Dokumentarfilm Memoria Viva mit dem deutschen Untertitel „Lebendige Erinnerung“ hat der spanische Filmemacher Antonio Jesús García de Quirós Rodríguez rund achtzig ältere Herrschaften – passender: Protagonist_innen aus der Arbeiterschaft – vor die Kamera gebeten, um ihre ganz persönlichen und dennoch zutiefst politischen Erfahrungen mit und innerhalb der legendären spanischen Gewerkschaftsverbindung Confederación Nacional del Trabajo zu erzählen. Entstanden ist daraus ein außergewöhnliches zeitgeschichtlich bedeutsames Dokument, das die offizielle Historie Spaniens der vergangenen hundert Jahre um die kostbare Komponente ganz individueller Narrationen ergänzt.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts formierten sich in Europa im Zuge der Industrialisierung angesichts der elendigen Arbeits- und Daseinsbedingungen der meisten Menschen die ersten Ausschüsse und Organisationen, die sich für die Rechte der Werktätigen und gegen ihre Entmündigung und Ausbeutung einsetzten. Diese Entwicklungen mündeten in die Gründung und den engagierten Einsatz von Gewerkschaften, und als im November 1910 in Barcelona die Confederación Nacional del Trabajo (CNT) ins Leben gerufen wurde, stellte diese eine rasch anwachsende Föderation von einzelnen kleinen Gewerkschaften mit gleichzeitig anarchistischer und syndikalistischer Orientierung dar. Weitaus radikaler als bei den lokalen Arbeiterorganisationen liefen ihre Forderungen unter anderem auf tatsächlich von den Arbeitern selbst verwaltete neue Formen der Gesellschaft hinaus, was von der Regierung sogar mit einem Verbot der CNT über drei Jahre quittiert wurde.

Doch das Engagement setzte sich teilweise im Verborgenen fort, und als die offizielle Ächtung 1917 aufgehoben wurde, steigt die Organisation auch durch zunächst gemeinsame Aktionen mit der sozialistischen Konkurrenz-Gewerkschaft Unión General de Trabajadores zu frischer Macht auf, die durch effektive Aufrufe zu Generalstreiks gefestigt wurde. Die Entwicklung der CNT hat nachfolgend noch einige spektakuläre Phasen der spanischen und auch europäischen Geschichte kämpferisch durchlaufen und widerborstig am Rande des kompletten Verschwindens überlebt, wie den Spanischen Bürgerkrieg, den Franquismus und den Zweiten Weltkrieg sowie die Zeit der Transición hin zur parlamentarischen Monarchie, an welche sich 1976 eine Neugründung der Vereinigung anschloss, die bis heute Bestand hat.

Gillermina Peiró, Ingenio Camarasa, Ana Peréz Contreras, Daniel Méndez und all die weiteren Zeitzeugen, die für dreihundert Stunden Interviewmaterial sorgten und für ihren Auftritt in Memoria Viva ausgewählt wurden, um ihre Erinnerungen unprätentiös der Kamera als direktem Gegenüber berichten, bleiben im Film selbst namenlos. Diese bewusste Entscheidung des Regisseurs, keine sonst üblichen Untertitel zur Benennung der Vortragenden einzublenden, ist als Verbeugung vor dem kollektiven Charakter der Bewegung und des Films intendiert, der anhand von konstruiert anonymen Stimmen allenfalls ein Quäntchen des gewaltigen Gedächtnisses jener Zeiten transportieren kann. Auch aus den Reihen der Weggefährt_innen der Protagonist_innen starben Menschen im Konzentrationslager Mauthausen, und anlässlich einer Gedenkfeier diesbezüglich im Jahre 2009 kristallisierte sich das Vorhaben heraus, den Geist des spanischen Anarchosyndikalismus durch das Befragen von überlebenden Anhängern audiovisuell zu bannen. Memoria Viva wurde zu großen Teilen von der CNT selbst finanziert sowie von zahlreichen Mitgliedern begleitet und gefördert.

Die Erzählungen der überwiegend auch aktuell ungebrochen von der anarchistisch-freiheitlichen und gegen das kapitalistische System gerichteten Utopie überzeugten Arbeiter_innen werden allein spärlich von kurzen Impressionen der Akteure in ihren Lebensumgebungen flankiert, von kraftvoller, schwermütiger Musik begleitet. Diese kleinen Sequenzen des Innehaltens im narrativen Diskurs verleihen dem Film im Kontrast zu der schlicht-strengen, puristischen Form seiner monologischen Präsentationen eine ansprechende atmosphärische Dimension. Die markante Tendenz, in der andauernd postkolonialistischen Ära vormals allzu lang verborgene Perspektiven durch ganz persönliche Narrationen aus ihrem marginalisierten Raum herauszuheben, erscheint auch in Memoria Viva als bedeutsamer Befreiungsakt. Trotz der möglicherweise vergeblichen Bemühungen des Dokumentarfilmdebütanten Antonio Jesús García de Quirós Rodríguez, seine Darsteller signifikant zu anonymisieren, sind es nicht zuvorderst ihre Informationen, die berühren und deren Komplexität mitunter die notwendigen Hintergrundkenntnisse der Zuschauer überfordert. Es sind vielmehr die vielschichtigen Emotionen der Arbeiter_innen, die hier eine beachtliche Intensität erzeugen, immer wieder zaghaft bis mahnend den dichten Informationsfluss unterbrechen und durch ihre Vehemenz ein Verständnis eröffnen, das die historischen „Fakten“ allein nicht erreichen können.

(Marie Anderson)

Der Film wird im spanischen Original mit deutschen Untertiteln und zu bestimmten Terminen in Anwesenheit des Regisseurs und Produzenten gezeigt, einzusehen unter:
https:www.//sabcatmedia.wordpress.com/termine/memoria-viva/

Memoria Viva - Lebendige Erinnerung

Wahrhaft lebendige Erinnerungen kann es wohl nur geben, wenn bei bestimmten Ereignissen Anwesende solche hegen und pflegen. Dabei ist es der Vitalität und Kraft dieser Gedächtnisse meist ungemein zuträglich, wenn die memorierende Person aktiv am Erlebten beteiligt war und zudem bereit ist, ihre retrospektiven Gedanken darüber auch zu teilen.
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