Laurence Anyways (2012)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Narzissmus der Aufmerksamkeit

Es gibt sehr wahrscheinlich kein echtes Leben im falschen Körper. Aber die wahre Gestalt anzunehmen, wie es Laurence Alia (Melvil Poupaud) mit seiner Geschlechtsumwandlung zur Frau anstrebt, verschafft vielleicht doch weniger exhibitionistische Erregung, als das frühreife Regie-Genie Xavier Dolan in seinem gleichwohl berauschend poetischen Melodram Laurence Anyways wahrhaben will.

Québec, Kanada, in den 1990er Jahren: Was ist stärker – die Liebe oder die sexuelle Orientierung? Dieser Prüfung sehen sich Laurence und seine Freundin Fred Bélaire (Suzanne Clément) ausgesetzt. Der Lehrer und Dichter Mitte dreißig fühlt sich als Frau und will fortan als solche leben, aber zusammen mit der Werbefilmerin an seiner Seite. Doch sosehr Fred Witz und Charakter ihres Partners schätzt, wünscht sie sich im Bett einen Mann – und droht zudem am gesellschaftlichen Druck zu zerbrechen.

Während der mehr als zweieinhalb dynamischen Stunden von Laurence Anyways ruft man sich immer wieder bewundernd das Alter des Regisseurs und Autors in Erinnerung: Mit gerade einmal 23 Jahren hat der Francokanadier Xavier Dolan nun schon seinen dritten Spielfilm nach I Killed My Mother und Herzensbrecher gedreht, überzeugend eine vergangene Epoche zum Leben erweckt und mit milieusicheren Dialogen das intellektuelle Niveau seiner Protagonisten grandios eingefangen, obwohl die am Ende der Geschichte fast doppelt so alt sind wie er.

Die schwebende Kameraarbeit von Yves Bélanger und synästhetische Stimmungsbilder wie bunte Klamotten am Himmel oder Sturzbäche von der Zimmerdecke sind berückend, nicht sosehr hingegen die allzu traditionelle Fixierung der Frau als Objekt des männlichen Blicks. Der in Cannes, Hamburg und Toronto ausgezeichnete Film fokussiert wie Werke Hitchcocks und Fassbinders weniger die Frau als Person als ihre erotische Inszenierung. Wobei Dolan mit einem Hauch des Perfiden deren Aneignung durch den Mann einbezieht.

Denn Laurences Wunsch, Frau zu werden, wird als Begehren nach der Aufmerksamkeit verstehbar, die seine hochemotional gespielte, vollbusige Partnerin genießt. Entsprechend bekennt Laurence freimütig, ihre Gesten und Gebärden zu kopieren, was doch etwas erschauern lässt. Der Regisseur ist sein Komplize: Lustvoll zelebriert Dolan die unendlich vielschichtigen Blicke, die Fred, seine Mutter Julienne (Nathalie Baye), seine Kollegen und seine Schüler auf Laurences Make-up, Ohrring, High-Heels und Rock werfen. Laurences ‚skandalöse‘ Auftritte, von Poupaud mit großartiger Mischung aus Ungeschick und Wille zur Eleganz absolviert, rivalisieren augenfällig mit Freds Verführung des Filmmagnaten Albert (David Sevard) während einer glamourösen Party.

Einer älteren blonden Journalistin, die Janet Leigh verblüffend ähnelt, dem Duschmordopfer in Psycho, erklärt Laurence, er brauche Blicke wie die Luft zum Atmen. Da stellt sich die Frage, worum es in Laurence Anyways eigentlich geht — um narzisstisches Verlangen oder um die Herausforderung der Transsexualität?

(Andreas Günther)
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Fassungslose Blicke und offenstehende Münder — das ist Laurence Alia (Melvil Poupaud) irgendwann gewohnt — obwohl: Kann man sich daran jemals gewöhnen? Der Grund für die Blicke, denen sich Laurence ausgesetzt fühlt, liegt auf der Hand. Denn Laurence, seit kurzem verliebt in die hinreißend verrückte Frédèrique, genannt „Fred“ Bellair (Suzanne Clément), fühlt sich eigentlich als Frau und will das auch endlich leben.

Dennoch kann er sich ein Leben ohne Fred nicht vorstellen und sie sich auch keines ohne ihn. Was zuerst zwar schwierig, aber nicht unmöglich erscheint, wird für die Liebe der beiden zu einer Höllentour: Laurence verliert seinen Job — versehen mit dem zynischen Hinweis, er könne sich ja nun ganz seiner Schriftstellerei widmen, Eltern und Freunde reagieren entsetzt und dann gerät die Beziehung der beiden ins Trudeln. Laurence findet schließlich Unterschlupf bei einer Familie von exzentrischen „Leidensgenossen“, Fred heiratet einen anderen Mann. Doch selbst nach einigen Jahren merken die beiden, dass sie nicht ohne einander können — aber miteinander eben auch nicht.

Annähernd drei Stunden Zeit nimmt sich Xavier Dolan für seine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die er in den späten 1980ern und den 1990ern angesiedelt hat. Gerahmt durch ein Interview, das Laurence (der niemals einen anderen Namen annimmt) gibt, folgt Dolan detailverliebt den Lebenswegen seiner beiden Protagonisten, lässt sie sich finden, dann wieder auseinandertreiben und schildert gekonnt die enorme Anspannung, unter der die beiden aufgrund ihrer besonderen Situation stehen. Wenn Fred in einem Restaurant wegen der dummen bis provokanten Fragen einer unsensiblen Kellnerin einen Wutausbruch bekommt und sich in dieser Szene alles entlädt, was sie erleiden muss, hat das solch eine emotionale Wucht, dass man als Zuschauer ebenso fassungslos diesem Wüten beiwohnt wie die Besucher in dem Restaurant.

Umso erstaunlicher ist aber, wie viel und vor allem was Dolan trotz der gewaltigen Laufzeit nicht erzählt. Zum Beispiel schlichtweg die Tatsache, ob Laurence denn nun eigentlich transsexuell ist oder ein Transvestit. Niemals sehen wir ihn Medikamente nehmen, lediglich an einer Stelle kommt das Gespräch zumindest indirekt auf eine Operation.

Keine Frage: Laurence Anyways fasziniert zumindest teilweise durch ausgefeilte und überaus opulente Bildarrangements, hinreißende Schauspieler, tolle Musik. Wenn man bedenkt, dass das kanadische Wunderkind Xavier Dolan gerade erst 23 Jahre alt ist und dies nach I Killed My Mother / J’ai tué ma mère und Herzensbrecher / Les amours imaginaires bereits sein dritter Langfilm ist, kann man sich vorstellen, dass diesem Filmemacher noch eine großartige Zukunft bevorsteht.

Trotz aller Stärken — und derer gibt es viele — hat Laurence Anyways jedoch enorme Längen und wird gerade angesichts der vielen offenen Fragen und zahlreichen Schlenker, die der Film immer wieder unternimmt, zu einer echten Geduldsprobe.

Dass man am Ende die Geduld nicht verliert und ausharrt, liegt vor allem an den zwei Darstellern, denen man ihre Rollen abnimmt, mit denen man leidet und für die man sich nach einem guten Ende sehnt. Vielleicht steckt ja darin auch der Wunsch, selbst als Person so leidenschaftlich, so bedingungslos geliebt zu werden, dass nichts diese Zuneigung erschüttern kann — im Extremfall nicht einmal solch eine Wandlung, wie sie Laurence vollzieht.


(Festivalkritik Cannes 2012 von Joachim Kurz)

Laurence Anyways (2012)

Es gibt sehr wahrscheinlich kein echtes Leben im falschen Körper. Aber die wahre Gestalt anzunehmen, wie es Laurence Alia (Melvil Poupaud) mit seiner Geschlechtsumwandlung zur Frau anstrebt, verschafft vielleicht doch weniger exhibitionistische Erregung, als das frühreife Regie-Genie Xavier Dolan in seinem gleichwohl berauschend poetischen Melodram „Laurence Anyways“ wahrhaben will.

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